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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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dein Fleisch auch!«
    Ich spürte, wie er sich von der Plane auf die Mittelbank gleiten ließ und von dort - ein tödlicher Fehler - einen Fuß auf den Bootsboden setzte.
    »Nicht, mein Bruder, tu das nicht! Wir sind nicht -«
    Ich wollte ihn zurückhalten. Aber es war zu spät. Bevor ich das Wort
allein
herausbrachte, war ich bereits wieder allein. Ich hörte nur ein leises Klicken der Krallen unten im Boot, nicht lauter als wenn eine Brille auf den Boden fällt, und schon im nächsten Moment stieß mein lieber Bruder direkt vor mir einen Schrei aus, wie ich noch nie einen Menschen habe schreien hören. Er ließ mich los.
    Das war der hohe Preis, den ich für Richard Parker zahlen musste. Er rettete mir das Leben, aber er nahm ein anderes dafür. Er riss dem Mann die Muskeln vom Leib und brach ihm die Knochen. Blutgeruch stieg auf. Damals starb etwas in mir, das nie wieder zum Leben erwacht ist.

Kapitel 91
    Ich kletterte hinüber auf das Boot meines Bruders und erkundete es mit den Händen. Wie sich herausstellte, hatte er mich belogen. Er hatte etwas Schildkrötenfleisch, den Kopf einer Dorade und - welch köstlicher Leckerbissen - sogar ein paar Zwiebackkrümel. Und er hatte Wasser. All das wanderte in meinen Mund. Dann kehrte ich zurück in mein Boot und ließ seines davontreiben. Die Tränen, die ich vergossen hatte, taten meinen Augen gut. Das kleine Fenster in der linken oberen Ecke meines Gesichtsfelds öffnete sich einen Spaltbreit. Ich spülte die Augen mit Salzwasser aus, und mit jedem Mal ging das Fenster ein wenig weiter auf. Innerhalb von zwei Tagen kehrte mein Augenlicht zurück.
    Doch bei dem Anblick, der sich mir bot, wünschte ich fast, ich wäre blind geblieben. Der zerfleischte, verstümmelte Leib lag am Boden des Bootes. Richard Parker hatte sich ausgiebig darüber hergemacht, auch über das Gesicht, und so erfuhr ich nie, wer mein Bruder gewesen war. Die gebrochenen Rippen sahen aus wie die Spanten eines Schiffs, und der blutlose, entsetzlich zugerichtete Torso kam mir wie ein Modell unseres Rettungsboots vor.
    Ich will gestehen, dass ich einen seiner Arme mit dem Fischhaken angelte und das Fleisch als Köder verwendete. Und ich will auch gestehen, dass ich in meiner entsetzlichen Not und dem Wahnsinn, in den sie mich trieb, etwas von seinem Fleisch aß. Kleine Stückchen wohlgemerkt, schmale Streifen, die ich eigentlich auf den Fischhaken spießen wollte und die, nachdem sie in der Sonne getrocknet waren, aussahen wie gewöhnliches Tierfleisch. Sie rutschten mir beinahe unbemerkt in den Mund. Die Not war erbarmungslos, und er war schließlich schon tot. Ich aß nichts mehr von ihm, als ich wieder Fisch hatte.
    Ich bete jeden Tag für seine Seele.

Kapitel 92
    Ich machte eine bemerkenswerte botanische Entdeckung. Viele werden der folgenden Episode keinen Glauben schenken. Ich erzähle sie trotzdem, weil sie Teil meiner Geschichte ist und sich tatsächlich so zugetragen hat.
    Ich lag auf der Seite. Es war ein oder zwei Stunden nach Mittag an einem ruhigen, sonnigen Tag, und es wehte eine sanfte Brise. Ich hatte ein Weilchen geschlafen - ein leichter Schlaf, der mir weder Erquickung noch Träume bescherte. Ich drehte mich auf die andere Seite, vorsichtig, damit es so wenig Energie wie möglich kostete. Dann schlug ich die Augen auf.
    Nicht weit von uns sah ich Bäume. Ich reagierte nicht. Ich war sicher, dass es eine Illusion war, die nach ein paar Lidschlägen verschwinden würde.
    Die Bäume verschwanden nicht. Im Gegenteil: es wurde ein ganzer Wald daraus. Sie standen auf einer flachen Insel. Ich richtete mich auf. Noch immer traute ich meinen Augen nicht. Doch es war aufregend-eine Sinnestäuschung von solcher Perfektion. Die Bäume waren wunderschön. Ich hatte solche Bäume noch nie gesehen. Ihre Rinde war blass, die gleichmäßig verteilten Äste mit erstaunlich dichtem Laub besetzt. Das Laub war leuchtend grün, ein so intensives Smaragdgrün, dass selbst das Grün der Monsunmonate im Vergleich matt und bräunlich schien.
    Ich blinzelte mit den Augen und rechnete damit, dass mein Lidschlag die Bäume zu Fall bringen würde. Aber sie fielen nicht.
    Ich ließ den Blick nach unten schweifen. Was ich sah, bestätigte mir meine Erwartung, enttäuschte mich aber auch. Die Insel hatte keinen Grund. Nicht dass die Bäume im Wasser gestanden hätten. Sie wuchsen anscheinend auf einem undurchdringlichen Geflecht von Pflanzen, die ebenso leuchtend grün waren wie das Laub. Wer hatte je von einem

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