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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Apfelmus!«
    »Würdest du
alles
von einem Tier essen, auch das letzte Fitzelchen?«
    »Schweinskopfsülze! Davon hätte ich jetzt gern einen Riesenteller!«
    »Und eine Karotte? Wie wäre es mit einer einfachen rohen Karotte?«
    Keine Antwort.
    »Hast du gehört? Würdest du auch eine Karotte essen?«
    »Ich habe dich gehört. Um ehrlich zu sein, wenn ich die Wahl hätte, lieber nicht. So etwas ist nicht mein Fall. Ich finde sogar, es schmeckt grässlich.«
    Ich lachte. Jetzt wusste ich es. Ich hörte keine Geisterstimmen. Ich war nicht verrückt geworden. Das war Richard Parker, der da mit mir sprach! Der alte Räuber. Die ganze Zeit hatten wir zusammengesessen, und erst jetzt, in unserer Todesstunde, machte er den Mund auf. Ich war begeistert, dass ich mich mit einem Tiger unterhalten konnte. Mit einem Mal war ich schrecklich neugierig, die Art von Neugier, mit der Verehrer den Filmstars das Leben schwer machen.
    »Sag mal, hast du schon einmal einen Menschen umgebracht?«
    Ich konnte es mir nicht vorstellen. Menschenfresser unter den Tieren sind genauso rar wie Mörder unter den Menschen, und Richard Parker war ja schon als Baby in den Zoo gekommen. Aber war es nicht denkbar, dass seine Mutter, bevor sie Durstig in die Falle ging, einen Menschen getötet hatte?
    »Was ist denn das für eine Frage?«, protestierte Richard Parker.
    »Liegt doch nahe.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja.«
    »Warum?«
    »Es wird euch nachgesagt.«
    »Uns?«
    »Ja natürlich. Wusstest du das nicht?«
    »Nein.«
    »Dann lass es dir gesagt sein. Ihr geltet als Menschenfresser. Also, hast du schon einmal einen umgebracht?«
    Schweigen.
    »Antworte.«
    »Ja.«
    »Oh! Da läuft es mir kalt den Rücken herunter. Wie viele?«
    »Zwei.«
    »Du hast zwei Menschen getötet?«
    »Einen Mann und eine Frau.«
    »Zusammen?«
    »Nein. Zuerst den Mann, dann die Frau.«
    »Du Untier! Und wahrscheinlich hat es dir auch noch Spaß gemacht. Du fandest es lustig, wie sie schrien und strampelten.«
    »Eigentlich nicht.«
    »Und wie schmeckten sie?«
    »Wie sie
schmeckten?«
    »Ja. Nun tu doch nicht so. Schmecken sie gut?«
    »Nein, überhaupt nicht.«
    »Dachte ich mir schon. Ich habe mir erzählen lassen, dass ihr sie nur mit Widerwillen fresst. Und warum hast du sie dann umgebracht?«
    »Aus Not.«
    »Die Not eines Untiers. Und tut es dir jetzt Leid?«
    »Entweder sie oder ich.«
    »Das nenne ich Not in all ihrer amoralischen Schlichtheit. Aber heute, tut es dir da Leid?«
    »Es war ein Impuls. Die Umstände.«
    »Instinkt nennt man das. Aber die Frage bleibt: Tut es dir heute Leid?«
    »Ich denke nicht daran.«
    »Du bist wirklich ein Tier, weißt du das?«
    »Und du, was bist du?«
    »Ich bin ein Mensch, darauf bestehe ich.«
    »Was für ein Hochmut.«
    »Die reine Wahrheit.«
    »Und du bist also einer von denen, die den ersten Stein werfen.«
    »Hast du mal Oothappam probiert?«
    »Nein, aber erzähl mir davon. Oothappam, was ist das?«
    »Oh, das schmeckt wunderbar.«
    »Hört sich gut an. Erzähl mehr.«
    »Oothappam wird aus übrig gebliebenem Teig gemacht, aber ich kann mir kein Resteessen vorstellen, das besser schmeckt.«
    »Ich spüre es schon auf der Zunge.«
    Ich schlief ein. Oder besser gesagt, ich verfiel in das Delirium des Todes.
    Aber etwas beschäftigte mich. Ich wusste nicht was, aber ein quälender Gedanke störte mich beim Sterben.
    Ich kam wieder zu mir. Jetzt wusste ich, was es war.
    »Sag mal.«
    »Ja?«, fragte Richard Parkers Stimme schwach.
    »Wieso sprichst du mit diesem Akzent?«
    »Tue ich überhaupt nicht.
Du
sprichst mit Akzent.«
    »Stimmt nicht. Aber du, du kannst kein
h
sprechen. Du hast eben
'ochmut
statt
Hochmut
gesagt.«
    »Ich sage
'ochmut,
wie es sich gehört.
Du,
du sprichst, als 'ättest du Murmeln verschluckt. Du 'ast einen
indischen accent.«
    »Und du sprichst, als wären die Wörter aus Holz und du wolltest sie zersägen. Du sprichst wie ein Franzose.«
    Ich verstand überhaupt nichts mehr. Richard Parker stammte aus Bangladesh und war in Tamil Nadu aufgewachsen. Woher hätte er denn da einen französischen Akzent haben sollen? Zugegeben, Pondicherry war ja einmal eine französische Kolonie gewesen, aber das konnte mir nun wirklich keiner weismachen, dass unsere Zootiere bei der Alliance Française an der rue Dumas ein- und ausgegangen waren.
    Verblüffend. Meine Sinne versanken wieder im Nebel.
    Mit einem Mal war ich hellwach, erschrocken. Da war jemand dort draußen! Diese Stimme, die ich da hörte, das war kein

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