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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Knurren. Ich wandte mich um. Richard Parker beobachtete mich vom Rettungsboot aus. Auch er musterte die Insel. Offenbar wollte er an Land kommen und traute sich nicht. Nachdem er eine Zeit lang fauchend auf- und abgewandert war, sprang er schließlich von Bord. Ich setzte die orangefarbene Trillerpfeife an die Lippen. Aber er führte nichts Böses im Schilde. Er hatte große Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und war ebenso unsicher auf den Beinen wie ich. Er kroch geduckt über den Boden und zitterte wie ein Neugeborenes. Er machte einen weiten Bogen um mich und bewegte sich auf die Anhöhe zu, dann verschwand er im Inneren der Insel.
    Ich verbrachte den Tag mit Essen, Ausruhen und vorsichtigen Stehversuchen und fühlte mich wie im siebten Himmel. Wenn ich mich zu sehr anstrengte, wurde mir übel. Und ich hatte ständig das Gefühl, als schwanke der Boden unter meinen Füßen, als würde ich jeden Moment umfallen, sogar wenn ich still saß.
    Am späten Nachmittag machte ich mir allmählich Gedanken über Richard Parker. In dieser neuen Umgebung, wo alte Reviergrenzen nicht mehr galten, war schwer zu sagen, wie er sich verhalten würde, wenn wir uns wieder begegneten.
    Widerstrebend, nur der Sicherheit halber, schleppte ich mich zurück zum Boot. Wie auch immer Richard Parker von der Insel Besitz ergriff, der Bug und die Plane blieben mein Territorium. Ich suchte nach einer Möglichkeit, wie ich das Rettungsboot festmachen konnte. Offenbar war das gesamte Ufer von einer dicken Algenschicht bedeckt, denn ich fand nichts anderes. Schließlich löste ich die Aufgabe, indem ich ein Ruder mit dem Stiel voraus tief in den Algenteppich stieß und das Boot daran vertäute.
    Ich kroch auf die Plane. Ich war todmüde. Mein Körper war erschöpft von so viel Nahrung, und die unerwartete Wendung meines Schicksals machte mich nervös und angespannt. Ich erinnere mich dunkel, dass ich irgendwann abends Richard Parker in der Ferne brüllen hörte, doch dann übermannte mich der Schlaf.
    Ich erwachte in der Nacht von einem unangenehmen Ziehen im Unterbauch. Ich hielt es für einen Krampf und dachte, die Algen seien womöglich giftig gewesen. Dann hörte ich ein Geräusch und blickte auf. Richard Parker war an Bord. Er war zurückgekehrt, während ich schlief. Er miaute und leckte sich die Ballen an den Füßen. Ich staunte, dass er wieder da war, dachte aber nicht weiter darüber nach - die Krämpfe verschlimmerten sich immer mehr. Ich krümmte mich vor Schmerz, fing an zu zittern, als ein für die meisten Menschen ganz normaler, für mich jedoch längst vergessener Vorgang einsetzte: mein Darm entleerte sich. Es war eine schmerzhafte Prozedur, aber danach sank ich in den tiefsten, erquickendsten Schlaf seit der Nacht bevor die
Tsimtsum
untergegangen war.
    Als ich am Morgen erwachte, fühlte ich mich spürbar stärker. Nun kroch ich schon viel energischer zu dem einzelnen Baum. Meine Augen genossen von neuem seinen Anblick, mein Magen genoss die Algen. Ich frühstückte so ausgiebig, dass ein großes Loch entstand.
    Wieder zögerte Richard Parker stundenlang, bevor er vom Boot sprang. Als er es am späten Vormittag schließlich wagte, sprang er, als er den Algenboden berührte, sofort zurück und landete halb im Wasser; er schien äußerst nervös. Er zischte und schlug mit den Pranken in die Luft. Es war ein seltsamer Anblick. Ich hatte keine Ahnung, was er da tat. Schließlich verflog seine Furcht, und wieder verschwand er hinter dem Hügel, schon sichtlich besser auf den Beinen als am Vortag.
    Diesmal nahm ich den Baumstamm zu Hilfe und richtete mich auf. Mir war schwindlig. Nur wenn ich die Augen schloss und mich am Stamm festhielt, hörte der Boden auf zu schwanken. Ich stieß mich ab und versuchte zu gehen. Ich stürzte schon beim ersten Schritt. Der Boden kam mir entgegen, bevor ich mich überhaupt gerührt hatte. Weh tat ich mir nicht. Die Insel mit ihrem federnden Pflanzenboden war genau der richtige Ort, um das Gehen neu zu lernen. Ich konnte fallen, wie ich wollte, und würde mich nicht verletzen.
    Am nächsten Tag, nach einer weiteren erholsamen Nacht auf dem Boot - wohin auch Richard Parker wiederum zurückgekehrt war -, gelang es mir. Ich fiel ein halbes Dutzend Mal, aber ich schaffte es bis zum Baum. Ich spürte, wie meine Kräfte stündlich wuchsen. Ich hatte einen Fischhaken mitgebracht und zog damit einen Ast zu mir herunter. Ich pflückte ein paar Blätter. Sie waren weich und fein, aber sie schmeckten bitter.

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