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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Richard Parker sah die Höhle auf dem Rettungsboot als sein Quartier - das war meine Erklärung dafür, dass er auch diesmal zurückgekehrt war.
    Am Abend sah ich ihn kommen, bei Sonnenuntergang. Ich hatte das Boot an dem eingesteckten Ruder noch einmal neu festgemacht. Ich stand am Bug und überprüfte eben, ob das Seil auch gut am Vorderende angebunden war. Mit einem Male war er da. Anfangs erkannte ich ihn gar nicht. Das prachtvolle Tier, das da vom Hügel herabgaloppiert kam, konnte doch nicht der abgehärmte struppige Tiger sein, der mit mir übers Meer gekommen war? Aber er war es. Es war Richard Parker, und er stürmte in vollstem Tempo auf mich zu. Zielstrebig. Den Kopf hatte er geduckt, sodass der mächtige Nacken in die Höhe stand. Fell und Muskeln bebten bei jedem Schritt, das Grün vibrierte unter seinen Pranken. Es klang wie ein Trommeln.
    Ich habe gelesen, dass es zwei Angstreaktionen gibt, die man einem Menschen nicht abtrainieren kann: das Zusammenfahren bei einem unerwarteten Geräusch und der Schwindel. Ich möchte eine dritte hinzufügen, nämlich die Panik, die einen packt, wenn man etwas auf sich zukommen sieht, das tödliche Macht hat.
    Ich angelte nach meiner Pfeife. Als er noch zehn Meter vom Boot entfernt war, blies ich mit aller Macht hinein. Ein markerschütternder Pfiff zerriss die Luft.
    Er tat seine Wirkung. Richard Parker blieb abrupt stehen. Aber sofort machte er Anstalten weiterzulaufen. Ich blies noch einmal. Er drehte sich halb um und hüpfte seltsam auf der Stelle, wie eine Antilope, und fauchte dabei wild. Ich blies noch einmal. Jedes Haar seines Körpers sträubte sich. Alle Krallen waren ausgestreckt. Er war in äußerster Erregung. Ich hatte das Gefühl, dass der Schutzwall, den ich mir mit meiner Trillerpfeife gebaut hatte, jeden Moment einstürzen und dass Richard Parker mich angreifen würde.
    Stattdessen tat er das, womit ich am wenigsten gerechnet hätte: Er sprang ins Wasser. Ich war verblüfft. Gerade das, was ich immer für undenkbar gehalten hatte, tat er, und ohne zu zögern. Mit energischen Zügen schwamm er zum Bootsheck. Ich überlegte, ob ich noch einmal blasen sollte, klappte aber dann lieber den Deckel zum Stauraum auf und verschanzte mich in meinem eigenen Revier.
    Triefend kletterte er an Bord, sodass mein Ende des Bootes sich in die Höhe hob. Einen Moment lang balancierte er auf Bootsrand und Heckbank und musterte mich. Mein Herz setzte aus. Ich hätte nicht mehr die Kraft gehabt, die Trillerpfeife zu blasen. Ich sah ihn einfach nur an. Er glitt hinunter auf den Bootsboden und verschwand unter der Plane. Rechts und links vom Deckel konnte ich ihn sehen. Ich warf mich auf die Plane, außerhalb seines Gesichtsfelds - aber unmittelbar über ihm. Der Wunsch, mir mögen Flügel wachsen und ich könne davonfliegen, war übermächtig.
    Schließlich beruhigte ich mich. Ich führte mir vor Augen, dass ich ja schließlich schon die ganze Zeit so lebte: auf engstem Raum mit einem ausgewachsenen Tiger.
    Als mein Atem gleichmäßiger wurde, schlief ich ein.
    Irgendwann in der Nacht wachte ich auf; die Angst war vergessen, und ich sah zu Richard Parker hinunter. Er träumte: Er zuckte und knurrte im Schlaf, so laut, dass ich davon wach geworden war.
    Am Morgen verschwand er wiederum hinter der Anhöhe.
    Ich nahm mir vor, die Insel zu erkunden, sobald ich wieder bei Kräften war. Der Küstenlinie nach zu urteilen war sie recht groß; links und rechts erstreckte sich das Ufer weithin und machte nur eine leichte Biegung, was auf einen beträchtlichen Umfang schließen ließ. Ich verbrachte den ganzen Tag damit, meine Beine zu stärken, indem ich immer wieder zwischen Ufer und Baum hin- und herging - und immer wieder stürzte. Nach jedem Sturz genehmigte ich mir eine ausgiebige Algenmahlzeit.
    Als Richard Parker gegen Abend zurückkehrte, etwas früher als am Vortag, wartete ich schon auf ihn. Ich saß unbewegt da und griff diesmal nicht zur Trillerpfeife. Er kam ans Ufer und sprang mit einem mächtigen Satz auf das Boot. Er betrat sein Revier, ohne in das meine einzudringen, nur das Boot neigte sich heftig zur Seite. Es war beängstigend, wie er wieder zu Kräften gekommen war.
    Am folgenden Morgen ließ ich Richard Parker einen guten Vorsprung und machte mich dann an die Erkundung der Insel. Ich stieg hinauf zur Anhöhe. Ich erreichte mein Ziel mühelos, setzte stolz einen Fuß vor den anderen, und mein Gang war beschwingt, wenn auch noch etwas steif. Wären meine Beine

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