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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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geschehen würde.
    Einmal machte ich einen Spaziergang im Wald. Ich ging recht schnell und war ganz in Gedanken. Ich kam an einem Baum vorbei - und wäre beinahe mit Richard Parker zusammengestoßen. Wir waren beide erschrocken. Er fauchte und stellte sich drohend auf die Hinterbeine, die riesigen Pranken zum Schlag erhoben. Ich stand wie angewurzelt, gelähmt vor Angst und Entsetzen. Er ließ sich wieder auf alle viere fallen und entfernte sich. Nach drei, vier Schritten, drehte er sich um und richtete sich erneut auf, diesmal begleitet von Knurren. Ich stand noch immer reglos wie eine Statue. Er machte erneut ein paar Schritte und wiederholte die Drohgebärde ein drittes Mal. Als er sicher war, dass ich ihm nicht gefährlich werden konnte, machte er sich davon. Sobald ich wieder Luft bekam und nicht mehr zitterte, setzte ich die Trillerpfeife an die Lippen und stürmte hinterher. Er hatte schon ein gutes Stück Vorsprung, war aber noch in Sichtweite. Ich rannte schnell. Er drehte sich um, sah mich, duckte sich - und ergriff die Flucht. Ich pfiff so laut ich konnte und hoffte, dass das Geräusch ebenso weit im Umkreis zu hören war wie der Schrei eines einsamen Tigers.
    In der Nacht, als er wieder einen halben Meter unter mir lag, beschloss ich, dass ich noch einmal in die Manege steigen musste.
    Die größte Schwierigkeit bei der Dressur ist, dass Tiere entweder instinktiv handeln oder gewohnheitsmäßig. Die Möglichkeit, auf dem kurzen Weg über die Intelligenz neue, nicht angeborene Verbindungen zu schaffen, ist nur im Ansatz vorhanden. Daher kann man einem Tier nur durch endlose, nervenaufreibende Wiederholungen beibringen, dass ein bestimmtes Verhalten - das Wälzen am Boden zum Beispiel — eine Belohnung nach sich zieht. Es ist ein mühsamer, langwieriger Prozess, der ebenso viel Glück wie harte Arbeit braucht, erst recht, wenn es sich um ein erwachsenes Tier handelt. Ich blies in die Trillerpfeife, bis meine Lungen schmerzten. Ich schlug mir an die Brust, bis sie mit blauen Flecken übersät war. Ich rief »Hep! Hep! Hep!«, mein Wort in der Tigersprache für »Los!« — viele tausendmal. Ich warf ihm Hunderte von Fleischstückchen hin, Fleischstückchen, die ich liebend gern selbst gegessen hätte. Eine Tigerdressur ist keine leichte Aufgabe. Tiger sind geistig längst nicht so beweglich wie andere Tiere, die gern im Zirkus oder Zoo dressiert werden - Seelöwen und Schimpansen beispielsweise. Aber ich will mich nicht zu sehr mit meinen Erfolgen bei Richard Parker brüsten. Ein glückliches Schicksal, dem ich auch mein Leben verdanke, wollte es, dass er nicht nur noch recht jung war, sondern dazu sehr gefügig, ein Omegatier. Ich machte mir Sorgen, dass die Verhältnisse auf der Insel das Blatt gegen mich wenden könnten - dass er angesichts eines solchen Überangebots an Nahrung, Wasser und Raum entspannt und selbstbewusst werden könnte, weniger leicht zu beeinflussen. Aber er blieb nervös. Ich kannte ihn gut genug, um das zu spüren. Nachts im Rettungsboot war er unruhig und reizbar. Ich schrieb seine Anspannung der neuen Umgebung auf der Insel zu; jede Veränderung, auch zum Positiven, macht ein Tier nervös. Was immer die Ursache sein mochte, die Anspannung, unter der er stand, bedeutete, dass er auch weiterhin bereit war, meinen Wünschen nachzukommen, ja dass er es sogar für
notwendig
hielt.
    Ich brachte ihm bei, durch einen Reifen zu springen, den ich aus dünnen Zweigen gebastelt hatte. Es war eine einfache Folge von vier Sprüngen. Für jeden bekam er einen Bissen Erdmännchen. Wenn er auf mich zugetrabt kam, hielt ich den Reifen zuerst in der ausgestreckten linken Hand, etwa einen Meter über dem Boden. Sobald er hindurchgesprungen war und langsamer wurde, nahm ich den Reifen in die rechte Hand und befahl ihm zurückzukommen und erneut durch den Reifen zu springen; dabei wandte ich ihm jetzt den Rücken zu. Für den dritten Sprung kniete ich mich auf den Boden und hielt mir den Reifen über den Kopf. Es war ein entsetzliches Gefühl, wenn ich ihn so auf mich zukommen sah. Ich lebte in ständiger Furcht, dass er mich angreifen könnte statt zu springen. Zum Glück sprang er jedes Mal. Danach stand ich auf und gab dem Reifen einen Schubs, sodass er rollte wie ein Rad. Richard Parker sollte hinterherlaufen und noch einmal hindurchspringen, bevor der Reifen zu Boden fiel. Er war nie sonderlich erfolgreich bei diesem letzten Teil, entweder weil ich den Reifen nicht ordentlich warf oder weil er

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