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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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mit dem Fuß beiseite schieben, damit ich nicht auf sie trat. Sie ließen sich meine Drängelei ohne Grollen gefallen und machten mir Platz wie eine gutmütige Menschenmenge. Ich spürte die warmen, pelzigen Körper an meinen Waden und beugte mich vor zum Teich.
    Alle Teiche waren kreisrund und ungefähr gleich groß - etwa zwölf Meter im Durchmesser. Ich hatte erwartet, dass sie flach sein würden, aber ich blickte in tiefes, klares Wasser. Ja, sie schienen sogar unendlich tief. Und soweit ich hinunterblicken konnte, bestanden die Seiten aus grünen Algen. Die Algenschicht auf der Insel musste sehr dick sein.
    Ich sah nichts, was die gebannte Aufmerksamkeit der Erdmännchen erklärte, und ich hätte das Rätsel wohl ungelöst gelassen, wäre nicht großes Quietschen und Schnattern an einem Nachbarteich ausgebrochen. Erdmännchen hüpften in sichtlicher Erregung auf und ab. Und plötzlich sprangen sie zu Hunderten in den Teich. Ein großes Gedränge setzte ein, denn die weiter hinten Stehenden wollten nun alle gleichzeitig ans Ufer. Der Drang steckte alle an, und selbst die kleinsten Erdkinder drängelten zum Wasser, von Müttern oder Kindergärtnern gerade noch zurückgehalten. Ich schaute ungläubig zu. Das waren nicht die Erdmännchen, wie man sie aus der Kalahariwüste kannte. Wüsten-Erdmännchen führten sich nicht auf wie Frösche. Was ich hier vor mir hatte, war eindeutig eine eigene Untergattung, die hier ihre ebenso kuriose wie faszinierende Nische gefunden hatte.
    Ich ging hinüber zu dem Teich, vorsichtig, damit ich auf keines von ihnen trat, und als ich über die Kante blickte, sah ich Erdmännchen, die darin schwammen - tatsächlich schwammen - und Dutzende von Fischen ans Ufer holten, und zwar nicht nur kleine Fische. Manche waren Doraden, die uns auf dem Rettungsboot als Festmahl gegolten hätten. Sie waren größer als die Erdmännchen. Es war mir unbegreiflich, wie Erdmännchen solche Fische fangen konnten.
    Erst als sie mit bemerkenswerter Teamarbeit die Fische an Land hievten, fiel mir etwas auf: Jeder davon, jeder einzelne Fisch, war tot. Noch nicht lange, aber eindeutig tot. Die Erdmännchen bargen Fische, die sie nicht selbst gefangen hatten.
    Ich kniete mich ans Ufer, wozu ich einige nasse, aufgeregte Erdmännchen beiseite schieben musste. Ich tauchte die Hand ins Wasser. Es war kälter als ich erwartet hatte. Eine Strömung brachte kühles Wasser von unten herauf. Ich schöpfte ein wenig Wasser mit der Hand und führte sie an den Mund. Ich probierte.
    Es war Süßwasser. Das erklärte, woran die Fische gestorben waren - denn jeder Salzwasserfisch, der ins Süßwasser kommt, quillt binnen kurzem auf und stirbt. Aber was taten denn Meeresfische in diesem Teich? Wie kamen sie dorthin?
    Ich bahnte mir einen Weg durch die Erdmännchen zu einem weiteren Teich. Auch er enthielt Süßwasser. Genau wie der nächste. Und der vierte ebenfalls.
    Sämtliche Teiche waren voll mit Süßwasser. Doch woher kam all dieses Wasser, fragte ich mich. Die Antwort lag auf der Hand: von den Algen. Die Algen entzogen dem Meerwasser beständig auf natürlichem Wege das Salz, deswegen waren sie im Inneren salzig und außen mit Süßwasser benetzt: Sie schwitzten sozusagen das Süßwasser aus. Ich fragte mich nicht, warum die Algen das taten oder wie sie es taten oder was mit dem Salz geschah. Solche Fragen stellte mein Verstand einfach nicht mehr. Ich lachte nur darüber und sprang in einen Teich. Ich konnte mich nur mit Mühe an der Wasseroberfläche halten; ich war noch immer sehr schwach und hatte keine Fettpolster, die für Auftrieb gesorgt hätten. Ich hielt mich am Ufer des Teiches fest. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, so ein Bad in klarem, sauberem, salzfreiem Wasser. Nach der langen Zeit auf dem Meer war meine Haut wie Leder, und die Haare waren lang, verfilzt und klebrig wie ein Fliegenfänger. Mir war, als hätte das Salz sogar meine Seele zerfressen. So genoss ich mein Bad unter den Blicken von tausend Erdmännchen und wartete, bis das Süßwasser mich von allem, was an mir klebte, gereinigt hatte.
    Die Erdmännchen wandten den Blick ab. Sie drehten sich wie auf Kommando alle zum gleichen Zeitpunkt in die gleiche Richtung. Ich stieg aus dem Wasser, um zu sehen, was geschah. Es war Richard Parker. Er bestätigte meine Vermutung, dass diese Erdmännchen schon seit so vielen Generationen ohne natürliche Feinde lebten, dass jede Vorstellung von Fluchtabstand, überhaupt von Flucht oder Angst aus ihren

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