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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Boden und ein leichtes Schwappen der Teichoberflächen waren das einzige Zeichen, was für eine Kraft durch die Insel hindurchging. Und hindurch ging sie tatsächlich: auf der Windschattenseite traten, deutlich gedämpft, Wellen wieder aus und zogen ihres Weges. Es war ein äußerst kurioser Anblick, Wellen, die vom Ufer
fort
zogen. Der Sturm und die kleinen Erdbeben, die er mit sich brachte, erschütterte die Erdmännchen nicht im Geringsten. Sie gingen ihren Geschäften nach, als existierten die Elemente gar nicht.
    Noch unverständlicher war, wie karg die Insel war. Noch nie war mir ein dermaßen reduziertes Ökosystem begegnet. In der Luft gab es keine Fliegen, keine Schmetterlinge, keine Bienen, überhaupt keine Insekten. Kein Vogel sang in den Bäumen. In der Ebene gab es keinen Nager, keine Made, keinen Wurm; keine Schlange und kein Skorpion verbarg sich dort, kein anderer Baum wuchs, kein Busch, keine Gräser, keine Blumen. In den Teichen lebten keine Süßwasserfische. Am Ufer gab es weder Tang noch Krabben noch Krebse, keine Kiesel, keine Korallen, keine Felsen. Mit der einen, allerdings großen Ausnahme der Erdmännchen gab es keine einzige andere Materie auf der Insel, ob organisch oder anorganisch. Sie bestand aus nichts als leuchtend grünen Algen mit leuchtend grünen Bäumen darauf.
    Parasiten waren die Bäume nicht. Das stellte ich fest, als ich einmal unter einem jungen Baum saß und so viel Algen aß, dass ich seine Wurzeln freilegte. Ich sah, dass die Wurzeln nicht als eigenständige Gebilde in die Algen hineinwuchsen, sondern aus diesen heraus, dass sie eins mit ihnen waren. Es musste also entweder eine symbiotische Beziehung zwischen Baum und Alge sein, bei der beide zu beider Vorteil gaben und nahmen, oder, einfacher noch, der Baum war schlichtweg Bestandteil der Alge. Ich würde vermuten, dass es Letzteres war, denn die Bäume trugen anscheinend keine Blüten oder Früchte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein eigenständiger Organismus, auch wenn er sich auf eine noch so enge Symbiose einlässt, einen so entscheidenden Teil des Lebens wie die Fortpflanzung aufgeben würde. Die Blätter liebten das Sonnenlicht, sonst wären sie nicht so reichlich, so groß und so chlorophyllgrün gewesen, und daraus schließe ich, dass sie hauptsächlich zur Energiegewinnung da waren. Aber das ist Vermutung.
    Eine letzte Beobachtung möchte ich noch anfügen. Sie beruht eher auf Intuition als auf echten Beweisen. Und zwar bin ich der Ansicht, dass die Insel gar keine Insel im herkömmlichen Sinne des Wortes war - keine Landmasse, die fest mit dem Ozeanboden verbunden ist -, sondern eher ein schwimmender Organismus, ein Algenknäuel von gigantischen Ausmaßen. Ich würde auch vermuten, dass die Teiche bis auf die Unterseite dieser gewaltigen schwimmenden Masse reichten und mit dem Meer in Verbindung standen, denn anders ist die Gegenwart von Doraden und anderen Hochseefischen nicht zu erklären.
    All das wäre weitere Untersuchung wert, aber leider habe ich die Algen, die ich mitnahm, verloren.
    Genau wie ich erwachte auch Richard Parker zu neuem Leben. So wie er sich mit Erdmännchen vollstopfte, setzte er bald wieder Fleisch an, sein Fell glänzte von neuem, und schließlich sah er wieder genauso gesund aus wie zu Anfang unserer Reise. Er blieb seiner Gewohnheit treu und kehrte am Ende jedes Tages zum Rettungsboot zurück. Ich achtete immer darauf, dass ich vor ihm dort war, und markierte mein Revier reichlich mit Urin, damit auch klar war, wer von uns welchen Rang hatte und was wem gehörte. Aber er verließ das Boot immer schon im ersten Morgenlicht und machte weitaus größere Ausflüge als ich; da die Insel ja überall gleich aussah, blieb ich meistens, wo ich war. Den Tag über sah ich ihn nur selten. Und ich machte mir Sorgen. Ich sah, wie er mit den Vorderpranken an den Bäumen kratzte - tiefe Furchen in den Stämmen. Ich hörte sein heiseres Brüllen, den
Aaonh-Schrei,
so mächtig wie Gold und Honig, so angsteinflößend wie der Schacht einer brüchigen Mine oder tausend wütende Bienen. Dass er auf der Suche nach einer Gefährtin war, beunruhigte mich nicht als solches; aber es bedeutete, dass er sich auf der Insel wohl genug fühlte, dass er an Nachwuchs dachte. Der Gedanke beschäftigte mich, dass er in dieser Stimmung wohl keinen anderen männlichen Tiger in seinem Territorium dulden würde, schon gar nicht nachts und schon gar nicht wenn seine Rufe unbeantwortet blieben, wie es mit Sicherheit

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