Abbau Ost
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Mangel und Überfluss
Hans-Werner Sinn ist der Direktor des in München ansässigen ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, eines von bundesweit sechs
führenden, ganz ähnlich strukturierten Forschungseinrichtungen. Sein Thema sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in
Deutschland. Das ifo-Institut trägt Wirtschaftsdaten zusammen und zeigt Entwicklungen auf, wobei es in erster Linie dem Direktor
vorbehalten bleibt, die vielen Details analytischer Arbeit zusammenzufügen und daraus Änderungsvorschläge abzuleiten, die
dann im günstigsten Fall von den politischen Entscheidungsträgern aufgegriffen und umgesetzt werden. Deutschland hat derzeit
ungeheuerlichen Änderungsbedarf, im Grunde wissen die Verantwortlichen gar nicht, wo sie zuerst anfangen sollen. All jene,
die sich noch gestern am Erfolgsmodell Deutschland wärmten, haben kalte Füße bekommen. Einige der Probleme sind so grundsätzlicher
Natur, dass die Politiker davor kapitulieren. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland frustrieren zahllose Unternehmer,
erschweren oder verhindern Unternehmensgründungen und zwingen Jahr für Jahr viele Tausende zur Aufgabe ihres Geschäfts. Selbst
in Zeiten des konjunkturellen Aufschwungs profitieren viele Unternehmen nicht so, wie dies die weltwirtschaftliche Lage erwarten
ließe. Der deutsche Fiskus bürdet Unternehmen und Arbeitnehmern immer größere Lasten auf, die Einkommensentwicklung hält mit
anderen Industrienationen nicht mehr Schritt. Und am Ende eines weltweiten Nachfrageschubs gibt es ein noch böseres Erwachen.
Früher war das einmal anders. Wer das Wirtschaftswunder erlebt |12| hat oder es aus den Erzählungen der Eltern kennt, dem fällt ein Bruch auf, der irgendwie zeitlich mit der deutschen Einigung
zusammenfällt. Tatsächlich scheint im wiedervereinigten Deutschland kaum noch etwas so zu sein, wie es in der alten Bundesrepublik
einmal war. Hans-Werner Sinn nutzte das zehnjährige Einigungsjubiläum zu einer prinzipiellen Analyse und sicherte sich, was
die Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung auf dem früheren Territorium der DDR betraf, die Meinungsführerschaft. Im
Oktober 2000 veröffentlichte der Institutsdirektor seinen »Kommentar zur Lage der neuen Länder«, der die Beziehungen zwischen
beiden Teilen Deutschlands und die öffentliche Wahrnehmung des Beitrittsgebiets nachhaltig verändern sollte. Anfangs erschien
die Arbeit nur in englischer Sprache, eine an das westliche Europa gerichtete Rechtfertigung für die in Deutschland verloren
gegangene Wirtschaftsdynamik. Erst nachdem der Erklärungsversuch anderen Industrienationen plausibel erschien, war es an der
Zeit, auch dem deutschen Publikum eine »überarbeitete und veränderte Übersetzung« vorzulegen. Als erster rührte Hans-Werner
Sinn damit an jene Wunden, von denen viele meinten, sie würden schon irgendwie verheilen, wenn nur genügend Zeit ins Land
ginge. Aber da heilte nichts. »Die Vereinigung ist ökonomisch misslungen«, hieß es gleich zu Beginn des Aufsatzes. »Der Anpassungsprozess
der ostdeutschen Wirtschaft ist bei einer Leistungskraft von etwa 60 Prozent zu einem vorläufigen Stillstand gekommen, und
immer noch kommt jede dritte Mark, die im Osten ausgegeben wird, aus den alten Bundesländern.« Auf 13 eng beschriebenen Seiten
dokumentierte der Artikel ein krasses Missverhältnis zwischen der Arbeitsleistung und dem Konsumverhalten der Ostdeutschen.
»Der zu sozialistischen Zeiten äußerst geringe Lebensstandard hat sich fast an westliche Verhältnisse angepasst.« Nach den
Berechnungen des ifo-Instituts verfügt der ostdeutsche Haushalt wegen geringerer Warenpreise und Mieten im Durchschnitt »über
mindestens 90 Prozent des westdeutschen Nettoeinkommens«. Bei der Rente übertrifft der Osten nach den Münchener Analysen sogar
den westlichen Standard. »Bemerkenswert ist, dass das Renteneinkommen eines durchschnittlichen |13| ostdeutschen Rentenbeziehers höher als das eines westdeutschen Rentenbeziehers ist.« Danach erreichten die Rentenzahlungen
in den neuen Ländern »real sogar 120 Prozent der westlichen Durchschnittsrente«. Und das, obwohl die Ostrenten nach Auffassung
des ifo-Instituts im Westen erarbeitet werden, denn »es darf nicht übersehen werden, dass die finanziellen Mittel, die den
Ostdeutschen zur Verfügung stehen, die eigene Leistung bei weitem übertreffen«.
Die Ursachen dieser Fehlentwicklung lagen
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