Schiffbruch Mit Tiger
unmittelbarer. Die Fachliteratur ist voll von Berichten über die Grausamkeiten, die Zootieren angetan werden: ein Schuhschnabel, der am Schock starb, als jemand ihm mit dem Hammer auf den Schnabel schlug; ein Elchbulle, dem ein Besucher mit dem Taschenmesser den Bart samt fingerlangem Hautstreifen abschnitt (derselbe Elch wurde ein halbes Jahr darauf vergiftet); ein Affe, dem der Arm gebrochen wurde, als er nach hingehaltenen Nüssen griff; ein Angriff mit der Säge auf die Hörner eines Rehs, mit dem Schwert auf ein Zebra; weitere Angriffe auf weitere Tiere, mit Spazierstöcken, Regenschirmen, Haarnadeln, Stricknadeln, Scheren, allem Möglichen, meist in der Absicht, ihnen die Augen auszustechen oder die Geschlechtsteile zu verletzen. Tiere werden auch vergiftet. Dazu kommen die bizarreren Übergriffe: Onanisten, die Affen, Ponies oder Vögel besudeln; ein religiöser Eiferer, der einer Schlange den Kopf abschlägt; ein Irrer, der einem Elch ins Gesicht pinkelt.
In Pondicherry hatten wir eher noch Glück damit. Bei uns gab es keine Sadisten, wie sie in europäischen und amerikanischen Zoos ihr Unwesen trieben. Trotzdem wurde uns einmal ein Goldhase gestohlen (und landete, vermutete Vater, im Kochtopf). Viele Vögel - Fasane, Pfauen, Aras - mussten Federn an Leute lassen, die etwas von ihrer Schönheit mit nach Hause nehmen wollten. Einmal erwischten wir einen Mann, der mit einem Messer ins Gehege der Zwergböckchen klettern wollte; er erklärte, er wolle den bösen Geist Ravana bestrafen (der im Ramayana Hirschgestalt annahm, als er Sita, die Gemahlin Ramas, entführte). Einen erwischten wir beim Diebstahl einer Kobra. Er war ein Schlangenbeschwörer, dessen eigene Schlange gestorben war. Beide hatten Glück: der Kobra blieb ein Leben voller Erniedrigung und schlechter Musik erspart, dem Mann ein womöglich tödlicher Biss. Manchmal mussten wir Leute zurechtweisen, die mit Steinen warfen, weil die Tiere ihnen zu träge waren und sie wollten, dass sie etwas taten. Und dann war da die Frau, der ein Löwe den Sari auszog. Sie drehte sich wie ein Jojo, denn dem tödlichen Ende zog sie die tödliche Schande dann doch vor. Und es war nicht einmal ein Unfall gewesen. Sie hatte sich vorgebeugt und dem Löwen das Ende des Saris hingehalten; was sie damit bezwecken wollte, haben wir nie erfahren. Verletzt wurde sie nicht; zahlreiche Männer eilten begeistert zu Hilfe. Die verlegene Erklärung, die sie für Vater hatte, war: »Wer hat denn je gehört, dass Löwen Baumwollstoff fressen? Ich dachte, Löwen sind Fleischfresser.« Die meisten Sorgen machten uns Leute, die die Tiere fütterten. Auch wenn wir noch so auf der Hut waren, konnte Dr.Atal, unser Tierarzt, immer schon aus der Zahl der Fälle mit Verdauungsstörungen schließen, welches die gut besuchten Tage im Zoo gewesen waren. Die Gastritis und Enteritis, die von zu vielen Kohlehydraten, vor allem Zucker, herkam, nannte er die »Bonbonkrankheit«. Aber manchmal wünschten wir uns, die Leute wären bei Bonbons geblieben. Leute glauben, ein Tier könne alles fressen und es würde ihm überhaupt nichts ausmachen. Das stimmt nicht. Wir hatten einen Lippenbären, der eine schwere Darmentzündung mit inneren Blutungen bekam, nachdem ein Mann ihn mit verdorbenem Fisch gefüttert hatte; der Mann dachte allen Ernstes, er tue ihm etwas Gutes damit.
Gleich hinter dem Kassenhäuschen hatte Vater in leuchtend roten Buchstaben die Frage an die Wand malen lassen: WELCHES IST DAS GEFÄHRLICHSTE TIER IM Zoo? Ein Pfeil wies auf einen kleinen Vorhang. So viele gespannte, neugierige Hände griffen nach diesem Vorhang, dass wir ihn regelmäßig erneuern mussten. Dahinter war ein Spiegel.
Aber ich lernte schmerzlich am eigenen Leibe, dass es für Vater ein Tier gab, das sogar noch gefährlicher war als wir, und eines, das ähnlich weit verbreitet war, auf jedem Kontinent, in jedem Lebensraum: die unverwüstliche Spezies
Animalus anthropomorphicus
, das Tier durch menschliche Augen gesehen. Wir kennen sie alle, haben vielleicht sogar einmal eines besessen. Ein Tier, das »knuddelig« ist, »lieb«, »freundlich«, »treu«, eines, das bei uns »glücklich« ist, das uns »versteht«. Solche Tiere lauern in Spielzeugläden und im Streichelzoo. Unzählige Geschichten werden über sie erzählt. Sie sind das Gegenstück zu den »bösen«, »blutrünstigen«, »verkommenen« Tieren, die jene Irrsinnigen auf den Plan rufen, von denen ich eben gesprochen habe, diejenigen, die ihre eigene
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