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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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eines Berges denken ließ, nur dass dieser Sockel in der Luft schwebte, denn mit einer abrupten Kante endete er da, wo der Hosengürtel ihn einzwängte. Ich habe nie verstanden, wie die stockdürren Beine das Gewicht tragen konnten, das auf ihnen ruhte, aber sie schafften es, auch wenn sie sich bisweilen anders bewegten als man erwartete - so als könnte er seine Knie in jede gewünschte Richtung knicken. Sein Körperbau war geometrisch: zwei Dreiecke, ein kleines und ein großes, saßen auf zwei parallelen Linien. Aber organisch, mit ziemlich vielen Warzen sogar und schwarzen Haarbüscheln, die zu den Ohren herauslugten. Und freundlich war er. Wenn er lächelte, nahm es die gesamte Basis seines Kopfdreiecks ein.
    MrKumar war der erste Atheist, der mir begegnete. Ich erfuhr es nicht im Klassenzimmer, sondern im Zoo. Er war ein regelmäßiger Besucher, las sorgfältig Schilder und Beschreibungen und hatte für jedes Tier, das er sah, ein anerkennendes Wort. Jedes war für ihn ein Triumph der Logik und der Mechanik, und die gesamte Natur war einfach nur eine besonders schöne Illustration wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit. Wenn ein Tier den Drang zur Fortpflanzung verspürte, hieß das für ihn »Gregor Mendel«, nach dem Vater der Vererbungslehre, und wenn es die Muskeln spielen ließ, dann hieß es »Charles Darwin«, nach dem Begründer der Evolutionstheorie; was uns als Blöken, Zischen, Grunzen vorkam, waren für ihn nur einzelne Akzente im Chor der fremdländischen Schar. Wenn MrKumar den Zoo besuchte, dann kam er, um dem Universum den Puls zu horchen, und das Stethoskop seines Verstandes sagte ihm jedes Mal, dass alles in Ordnung, ja dass alles Ordnung war. Wenn er den Zoo verließ, fühlte er sich wissenschaftlich erquickt.
    Das erste Mal, dass ich seine Dreiecksgestalt zwischen den Gehegen schaukeln sah, traute ich mich nicht zu ihm hin. So gern ich zu ihm in den Unterricht ging, war er doch eine Respektsperson und ich ein Untergebener. Ich fürchtete mich ein wenig vor ihm. Ich beobachtete ihn aus der Ferne. Er war eben an die Nashorngrube getreten. Die beiden Indischen Nashörner waren große Attraktionen im Zoo, und zwar wegen der Ziegen. Rhinozerosse sind gesellige Tiere, und als Peak zu uns kam, ein in der Wildnis gefangener Jungbulle, litt er unter der Einsamkeit und fraß von Tag zu Tag weniger. Als Übergangslösung, bis er ein weibliches Tier fand, war mein Vater auf die Idee gekommen, ihm Ziegen zur Gesellschaft zu geben. Wenn es funktionierte, hatte er ein wertvolles Tier gerettet; wenn nicht, kostete es ihn nur ein paar Ziegen. Es bewährte sich bestens. Peak und die Ziegenherde waren unzertrennlich, selbst als seine Gefährtin Summit dazustieß. Jetzt umringten die Ziegen die Schlammpfütze, wenn die beiden Nashörner badeten, und wenn die Ziegen ihre Tagesration bekamen, stellten sich Peak und Summit hinter sie, als wollten sie sie bewachen. Das Publikum war von der Wohngemeinschaft begeistert.
    MrKumar blickte auf und sah mich. Er lächelte und winkte mich, wobei er sich mit einer Hand am Geländer festhielt, zu sich herüber.
    »Hallo, Pi«, sagte er.
    »Hallo, Sir. Schön, dass Sie in den Zoo kommen.«
    »Ich bin oft hier. Der Zoo ist mein Tempel, könnte man sagen. Das hier« - er wies auf die Grube -, »das ist interessant ... Wenn wir Politiker wie die Ziegen und Nashörner dort hätten, dann hätten wir weniger Sorgen in unserem Land. Unsere Premierministerin hat zwar den Panzer eines Nashorns, doch leider nichts von seiner Vernunft.«
    Ich verstand nicht viel von Politik. Meine Eltern beschwerten sich zwar laufend über MrsGandhi, aber mir sagte das nichts. Sie lebte weit im Norden, nicht im Zoo und nicht in Pondicherry. Aber ich musste ja etwas antworten.
    »Die Religion wird uns retten«, sagte ich. So weit ich überhaupt zurückdenken konnte, hatte die Religion mir am Herzen gelegen.
    »Religion?« MrKumar grinste zufrieden. »Ich glaube nicht an die Religion. Religion ist das Dunkel.«
    Dunkel? Ich war verblüfft. Dunkelheit war doch das Letzte, was Religion war. Religion war Licht. Wollte er mich prüfen? Sagte er »Religion ist das Dunkel«, so wie er manchmal im Unterricht Sachen sagte wie »Säugetiere legen Eier« und darauf wartete, dass jemand widersprach (»Aber nur das Schnabeltier, Sir«)?
    »Es gibt keinen Grund, sich mit der naturwissenschaftlichen Erklärung der Welt nicht zufrieden zu geben - keinen Grund, etwas anderem zu glauben als unseren eigenen Sinnen. Ein

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