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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Bosheit mit Regenschirm und Spazierstock an ihnen auslassen. In beiden Fällen sehen wir ein Tier an und blicken in einen Spiegel. Der Wahn, mit dem wir uns in den Mittelpunkt der Welt stellen, macht nicht nur den Theo-, sondern auch den Zoologen das Leben schwer.
    Dass ein Tier ein Tier ist, etwas anderes als wir, etwas, das sein eigenes Leben unabhängig von uns führt, das ist eine Lektion, die ich zweimal gelernt habe: einmal von meinem Vater und einmal von Richard Parker.
    Es war an einem Sonntagmorgen. Ich spielte still, mit mir allein. Dann rief Vater.
    »Kinder, kommt her.«
    Da stimmte etwas nicht. Sein Ton ließ in meinem Kopf ein Alarmglöckchen klingeln. Ich überlegte, ob ich ein reines Gewissen hatte. Ich fand schon. Es musste wohl Ravi sein, der wieder etwas ausgefressen hatte. Ich überlegte, was es diesmal gewesen war. Ich ging ins Wohnzimmer. Mutter war da. Das war ungewöhnlich. Kinder bestrafen war genau wie die Tierpflege in der Regel Vaters Domäne. Ravi kam als Letzter, und sein Ganovengesicht war ein einziges Schuldbekenntnis.
    »Ravi, Piscine, ihr sollt heute etwas sehr Wichtiges lernen.«
    »Muss das denn wirklich sein?«, wandte Mutter ein. Ihr Gesicht war gerötet.
    Ich schluckte. Wenn Mutter, die sich sonst durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, so sichtlich besorgt, ja ängstlich war, dann mussten wir in ernsten Schwierigkeiten sein. Ravi und ich sahen uns an.
    »Jawohl, das muss es«, antwortete Vater grimmig. »Es wird ihnen vielleicht einmal das Leben retten.«
    Unser Leben retten!
Inzwischen klang kein Glöckchen mehr in meinem Kopf - es war ein ganzes Geläute, wie wir es von der Herz-Jesu-Kirche hörten, nicht weit vom Zoo.
    »Aber Piscine?«, fragte Mutter noch einmal. »Er ist doch erst acht.«
    »Piscine macht mir die meisten Sorgen.«
    »Ich habe nichts getan!«, platzte ich heraus. »Das war Ravi, ganz egal, was es war. Ravi war's!«
    »Was?«, protestierte Ravi. »Überhaupt nichts habe ich getan.« Er starrte mich finster an.
    »Ruhe!«, rief Vater und hob die Hand. Er sah Mutter an. »Gita, du siehst doch, wie Piscine ist. Er ist jetzt in dem Alter, in dem Jungs sich herumtreiben und überall ihre Nase hineinstecken.«
    Ich ein Herumtreiber? Ein Nasen-Hineinstecker? Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr! Mutter, verteidige mich, flehte mein Herz, steh mir bei! Aber sie seufzte nur und nickte, zum Zeichen, dass sie ihn gewähren ließ.
    »Kommt mit«, sagte Vater.
    Wir zogen los wie Gefangene zur Hinrichtung.
    Vom Haus ging es durch das Tor zum Zoo. Es war früh am Tag, und der Zoo hatte noch nicht für das Publikum geöffnet. Wärter und Gärtner gingen ihrer Arbeit nach. Ich sah Sitaram, meinen Lieblingswärter, bei den Orang-Utans. Er hielt inne und sah zu, wie wir vorüberzogen. Wir kamen an Vögeln, Affen, Klauentieren vorbei, an den Terrarien, den Nashörnern, den Elefanten, den Giraffen.
    Wir kamen zu den Großkatzen, unseren Tigern, Löwen und Leoparden. Babu, der Wärter, wartete schon auf uns. Wir nahmen einen Pfad nach hinten, und er schloss die Tür zum Raubtierhaus auf, das mitten auf einer von Wassergräben umgebenen Insel lag. Wir traten ein. Die große, finstere Betonhöhle, kreisrund, war warm und stickig, und es roch nach Katzenurin. Rundum erstreckten sich die großen Käfige, durch dicke grüne Eisenstäbe voneinander getrennt. Ein gelblicher Lichtschein drang durch die Dachfenster ein. Durch die Käfigausgänge konnten wir das sonnenbeschienene Buschwerk der umgebenden Insel sehen. Die Käfige waren leer - bis auf einen: Mahisha, der Patriarch unter unseren bengalischen Tigern, durfte noch nicht nach draußen. Als wir eintraten, kam er sofort an die Käfigstäbe, mit einem furiosen Fauchen, die Ohren angelegt, die runden Augen fest auf Babu geheftet. Er fauchte so laut und wütend, dass das ganze Raubtierhaus zu beben schien. Mir schlotterten die Knie. Ich drückte mich an Mutter. Auch sie zitterte. Selbst Vater brauchte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. Nur Babu machte der Wutausbruch und der Blick, der ihn durchbohrte, nichts aus. Sein Vertrauen in die Eisenstangen war unerschütterlich. Mahisha ging nun in seinem Käfig auf und ab, immer bis an die Stangen.
    Vater stellte sich vor uns hin. »Was für ein Tier ist das?« Er musste brüllen, damit wir ihn durch Mahishas Fauchen hören konnten.
    »Ein Tiger«, antworteten Ravi und ich im Chor und bestätigten brav, was ja nicht zu übersehen war.
    »Sind Tiger gefährlich?«
    »Ja, Vater, Tiger

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