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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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wird, je nachdem, wie wir unser Leben leben.
    Das ist die heilige Essenz des Hinduismus, und ein Hindu bin ich mein ganzes Leben lang gewesen. Wenn ich weiß, was ich darüber weiß, dann kenne ich auch meinen Platz in der Welt.
    Aber genug davon! Der Teufel soll die Fundamentalisten und Literalisten holen! Ich muss an eine Legende denken, die über Krishna erzählt wird, zu der Zeit, als er ein Kuhhirte war. Abend für Abend lädt er die Milchmädchen ein, mit ihm im Wald zu tanzen. Sie kommen und sie tanzen. Es ist finstere Nacht, das Feuer in ihrer Mitte lodert und prasselt, der Rhythmus der Musik wird immer schneller - die Mädchen tanzen und tanzen und tanzen mit ihrem Herrn, der so vielfache Gestalt angenommen hat, dass jedes ihn zugleich im Arm hat. Doch will ein Mädchen ihn ganz für sich haben, und als sie glaubt, Krishna tanze mit ihr und nur ihr allein, verschwindet er noch im selben Moment. Denn bei Gott soll es keine Eifersucht geben.
    Ich kenne eine Frau hier in Toronto, an der hänge ich sehr. Sie war meine Pflegemutter. Ich nenne sie Tante, und das hört sie gern. Sie kommt aus Quebec, und auch wenn sie jetzt schon seit über dreißig Jahren in Toronto lebt, spricht ihr Verstand Französisch, und sie versteht manche englischen Laute nicht. So ging es ihr, als sie zum ersten Mal von den Hare Krishnas hörte. Sie verstand »hairless Christians«, glatzköpfige Christen, und noch Jahre später nannte sie sie so. Ich habe den Irrtum aufgeklärt, aber im Grunde fand ich, dass sie gar nicht so Unrecht hatte; denn Hindus, in ihrer großen Liebe zu allen Geschöpfen, sind tatsächlich haarlose Christen, genau wie Muslims, die Gott in allen Dingen sehen, bärtige Hindus sind, und Christen in ihrer Gottesfürchtigkeit sind Muslims mit Hut.

Kapitel 17
    Die ersten Eindrücke sind die tiefsten; was danach kommt, muss sich dem einfügen, was uns geprägt hat. Die Grundzüge meines Glaubens verdanke ich dem Hinduismus: die Landschaft, die Städte und Flüsse, die Wälder und Schlachtfelder, die heiligen Berge und die Tiefen des Meers, wo Götter, Heilige, Gauner und gewöhnliche Menschen einander begegnen und in dieser Begegnung bestimmen, wer wir sind und warum wir sind. Der Hinduismus war das Land, in dem ich zum ersten Mal von der unendlichen, kosmischen Macht der Liebe erfuhr. Es war Krishna, der zu mir sprach. Ich hörte ihn und folgte ihm nach. Und in seiner Weisheit und in der Vollkommenheit seiner Liebe führte Krishna mich zu einem Menschen.
    Ich war vierzehn Jahre alt und ein zufriedener Hindu, als mir an einem Ferientag Jesus Christus begegnete.
    Es kam nicht oft vor, dass Vater sich im Zoo ein paar Tage freinahm, aber einmal fuhren wir nach Munnar, gleich hinter der Grenze zu Kerala. Munnar ist ein kleiner Kurort in den Bergen, umgeben von den höchstgelegenen Teeplantagen der Welt. Es war Anfang Mai, der Monsun hatte noch nicht eingesetzt. In den Ebenen von Tamil Nadu war es drückend heiß. Eine kurvenreiche fünfstündige Autofahrt brachte uns von Madurai herauf. Die Kühle dort oben war wie Pfefferminze. Wir taten, was Touristen taten. Wir besuchten eine Teemanufaktur. Wir unternahmen eine Bootsfahrt auf dem See. Wir besichtigten einen Bauernhof. Wir gaben im Nationalpark den Bergziegen Salz zu lecken. (»Die können Sie auch bei uns im Zoo sehen«, sagte Vater zu ein paar Schweizer Touristen. »Kommen Sie doch nach Pondicherry.«) Ravi und ich zogen durch die umliegenden Teeplantagen. Alles nur Vorwände, um uns ein wenig Beschäftigung zu verschaffen. Denn wenn der späte Nachmittag kam, hatten es sich unsere Eltern im Teesalon des üppig ausgestatteten Hotels so bequem gemacht wie zwei Katzen in einem sonnigen Fenster. Mutter las, Vater plauderte mit den anderen Gästen.
    In Munnar gibt es drei Hügel. Sie sind nicht zu vergleichen mit den größeren Hügeln - Bergen, könnte man schon sagen - rings um die Stadt, aber gleich am ersten Morgen fiel mir beim Frühstück auf, dass sie doch etwas Besonderes waren: Auf jedem davon stand ein Gotteshaus. Der Hügel rechts von der Hotelterrasse, jenseits des Flusses, trug hoch oben an seiner Flanke einen Hindutempel; auf dem mittleren, ein wenig weiter entfernt, stand eine Moschee; und die Erhebung zur Linken krönte eine christliche Kirche.
    An unserem vierten Tag in Munnar, als der Nachmittag sich schon dem Ende zuneigte, stand ich auf dem Hügel zur Linken. Obwohl die Schule, die ich besuchte, nominell christlich war, war ich noch nie in einer Kirche

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