Schiffbruch Mit Tiger
weiß, wer wirklich unseren Goldhasen geholt hat. So geht das nicht weiter. Es muss etwas geschehen. Die Löwen können ihre Sünden nur büßen, wenn sie als Nächsten dich fressen.«
»Da hast du Recht, Vater, das ist ja nur logisch und vernünftig. Ich wasche mir noch eben die Hände.«
»Halleluja, mein Sohn.«
»Halleluja, Vater.«
Was für eine verrückte Geschichte. Was für eine verquere Psychologie.
Ich bat ihn, mir noch eine andere zu erzählen, eine, die ein wenig einleuchtender war. Mit Sicherheit gab es da doch noch mehr-jede Religion hat massenhaft Geschichten. Aber Pater Martin erklärte mir, dass die Geschichten, die vorher kämen - und davon gebe es tatsächlich noch viele -, für die Christen nur Vorgeschichte seien. Im Grunde gebe es in ihrer Religion nur diese eine, und die reiche ihnen für alle Zeit.
An jenem Abend im Hotel war ich sehr still.
Dass ein Gott sich Anfeindungen gefallen ließ, konnte ich verstehen. Auch die Hindugötter haben mit Dieben, Aufsässigen, Erpressern und Thronräubern zu tun. Was ist denn das Ramayana anderes als der Bericht über einen einzigen grässlichen Tag im Leben Ramas? Anfeindungen, gewiss. Pech, sicher. Verrat, jederzeit. Aber
Erniedrigung?
Tod? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Krishna zugelassen hätte, dass man ihn nackt auszog, ihn geißelte, verspottete, durch die Straßen zerrte und zum Schluss auch noch kreuzigte - und wohlgemerkt Menschen, nichts weiter. Nie hatte ich gehört, dass ein Hindugott gestorben wäre. Das offenbarte Brahman starb nicht. Teufel und Ungeheuer, die schon, genau wie wir Menschen, zu Tausenden und Millionen sogar - dazu waren sie schließlich da. Auch die Materie war vergänglich. Aber das Göttliche sollte vom Makel des Todes frei sein. Alles andere war unmöglich. Die Weltseele kann nicht sterben, nicht einmal ein einzelner Teil von ihr. Das war nicht richtig von diesem christlichen Gott gewesen, dass Er Seinen Avatar sterben ließ. Und der Tod des Gottessohns muss ja wohl echt gewesen sein. Wenn uns Gott am Kreuz das Leiden nur vorspielt, dann wird aus der Passion Christi eine Christusfarce. Der Sohn muss wirklich gestorben sein. Und Pater Martin versicherte mir, so sei es gewesen. Aber wenn ein Gott einmal tot war, dann haftet der Tod an ihm, selbst wenn er aufersteht. Der Sohn wird den Geschmack des Todes nicht mehr los. Die ganze Dreieinigkeit - man konnte sich vorstellen, wie grässlich es roch zur Rechten Gottes. Nicht nur in der Phantasie. Warum tat Gott Sich so etwas an? Warum überließ Er den Tod nicht den Sterblichen? Warum machte Er das Schöne schmutzig, die Vollkommenheit unvollkommen?
Aus Liebe. Das war Pater Martins Antwort.
Und was sollte man von dem Sohn halten? Es gibt die Erzählung vom kleinen Krishna, den seine Freunde zu Unrecht anschuldigen, er habe Schmutz gegessen. Seine Pflegemutter Yashoda stellt sich vor ihn hin und droht mit dem Finger. »Du sollst keinen Schmutz essen, du böser Junge!«, tadelt sie ihn. »Aber das habe ich nicht«, antwortet der Herrscher des Himmels und der Erde, der sich zum Spaß als armseliges Menschenkind verkleidet hat. »So, so! Dann mach den Mund auf«, kommandiert Yashoda. Krishna tut wie ihm geheißen. Er öffnet den Mund. Yashoda bleibt die Luft weg. In Krishnas Mundhöhle sieht sie die gesamte unendliche Weite des Universums, alle Sterne und Planeten des Weltalls und den Raum zwischen ihnen, alle Länder und Meere der Erde und das Leben, das dort herrscht; sie sieht alle Tage der Vergangenheit und alle Tage der Zukunft, alle Gedanken und alle Gefühle, alles Mitleid und alle Hoffnung und die Dreigestalt der Materie; kein Kieselstein, keine Kerze, nicht die kleinste Kreatur fehlt, kein Dorf und keine Galaxie, und auch sich selbst sieht sie und jeden Krümel genau an seinem Ort. »Du kannst den Mund wieder schließen, Herr«, sagt sie ehrfürchtig.
Und da wäre die Geschichte von Vishnu in seiner Gestalt als Zwerg Vamana. Von Bali, dem König der Dämonen, fordert er nur so viel Land, wie er mit drei Schritten durchmessen kann. Bali lacht über den winzigen Bittsteller und seine noch winzigere Bitte. Er willigt ein. Sogleich nimmt Vishnu seine wahre kosmische Gestalt an. Mit einem Schritt ummisst er die ganze Erde, mit dem zweiten die Himmel, und mit dem dritten versetzt er Bali einen Tritt und befördert ihn in die Unterwelt.
Selbst Rama, der Menschlichste aller Avatare, war kein Feigling, auch wenn man ihn an seine Götternatur erinnern musste, als er in
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