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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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gewesen und hätte mich auch jetzt nicht hineingetraut. Ich hatte nicht viel Ahnung von dieser Religion. Es gab kaum Götter, und sie galt als gewalttätig. Allerdings hatte sie gute Schulen. Ich umrundete die Kirche. Es war ein Gebäude, das nichts von dem verriet, was sich im Inneren verbergen mochte, mit dicken, schmucklosen hellblauen Mauern und hohen, schmalen Fenstern, durch die man nicht hineinsehen konnte. Eine Festung.
    Ich kam ans Pfarrhaus. Die Tür stand offen. Ich versteckte mich hinter einer Ecke und sah mich um. Links von der Tür war ein kleines Holzschild mit der Aufschrift
Gemeindepfarrer
und
Kaplan
und zwei Schiebetäfelchen, die zeigten, ob die Pfarrer an- oder abwesend waren. Beide waren ANWESEND , informierte die Tafel mich in Goldbuchstaben. Einer war in seinem Büro beschäftigt, den Rücken zum Erkerfenster, der andere saß auf einer Bank an dem runden Tisch im Vorraum, wo offenbar Besucher empfangen wurden. Er saß mit dem Gesicht zu Tür und Fenstern und las in einem Buch - einer Bibel, nahm ich an. Er las ein paar Zeilen, dann blickte er auf, las ein paar Zeilen, blickte wieder auf. Er schien entspannt und doch ganz bei der Sache. Nach ein paar Minuten klappte er das Buch zu und legte es beiseite. Er faltete die Hände und saß einfach nur da, die Miene zufrieden, nicht erwartungsvoll, doch auch nicht bitter.
    Die Wände des Vorraums waren weiß und schmucklos, die Tische und Bänke aus dunklem Holz, der Priester trug einen weißen Umhang - alles war ordentlich, einfach, schlicht. Ein Gefühl des Friedens erfüllte mich. Aber was mich mehr noch als die Stimmung dort faszinierte, was ich intuitivbegriff, das war, dass er einfach da war - geduldig, bereit -, für den Fall, dass jemand, egal wer es war, kam und mit ihm reden wollte. Ob jemand Trost in seinem Schmerz suchte, ob er seine Zweifel teilen, sein Gewissen erleichtern wollte - er würde ihm zuhören, und das voller Liebe. Das Lieben war sein Beruf, und er würde Trost und Hilfe geben, wo immer er konnte.
    Das rührte mich. Was ich da sah, stahl sich in mein Herz, und es pochte schneller davon.
    Er erhob sich. Ich dachte, vielleicht stellt er jetzt sein Schildchen um, aber das tat er nicht. Er ging nur weiter nach hinten ins Pfarrhaus, sonst nichts, und ließ die Tür zwischen Vorraum und nächstem Zimmer genauso offen wie die Tür nach draußen. Das fand ich bemerkenswert, wie beide Türen weit offen standen. Er und sein Kollege waren offensichtlich weiter zum Gespräch bereit.
    Ich wanderte zurück zur Kirche und fasste Mut. Ich ging hinein. Mein Magen zog sich zusammen. Ich hatte Angst, dass ich auf einen Christen stoßen würde, der mich anbrüllte: »Was hast du hier zu suchen, Ungläubiger? Willst du dieses Gotteshaus entweihen? Hinaus mit dir, auf der Stelle!«
    Aber es war niemand da. Und es gab auch wenig zu erforschen. Ich ging nach vorn und sah mir das Heiligtum an. Ein Bild hing dort. War das ihr Murti? Ein Menschenopfer offenbar. Ein wütender Gott, den man mit Blut beschwichtigen musste. Frauen, die benommen in den Himmel starrten, wo fette Babys mit winzigen Flügeln flogen. Ein Vogel, der anscheinend etwas Besonderes war. Welcher davon war der Gott? An der Seitenwand des Sanktums hing eine bemalte Holzstatue. Dieselbe Opfergestalt wie auf dem Bild, geschunden, das Blut in kräftigen Farben gemalt. Ich starrte seine Knie an. Sie waren ganz aufgeschlagen. Die hellrote Haut klaffte auf wie Blütenblätter, und die Kniescheiben waren rot wie Feuerwehrautos. Ich konnte mir nicht erklären, was diese Folterszene mit dem Pfarrer im Pfarrhaus zu tun hatte.
    Am nächsten Tag um die gleiche Zeit kam ich wieder. Wieder sagte das Schild ANWESEND , und diesmal ging ich hinein.
    Katholiken gelten als streng, sie urteilen unerbittlich. Aber was ich bei Pater Martin kennen lernte, war ganz anders. Er war die Freundlichkeit in Person. Er bot mir Tee und Kekse an, in einem Teegeschirr, das bei jeder Berührung klapperte; er behandelte mich wie einen Erwachsenen, und er erzählte mir eine Geschichte.
    Und was für eine. Das Erste, was mich fesselte, war, dass sie so unglaublich war. Was? Die Menschen sündigen, und Gottes Sohn zahlt die Zeche dafür? Ich stellte mir vor, wie Vater zu mir sagte: »Piscine, heute hat sich ein Löwe in die Lamagrube geschlichen und zwei Lamas gerissen. Gestern musste ein Rehbock dran glauben. Vorige Woche haben zwei von ihnen ein Kamel aufgefressen. Die Woche davor waren es Marabus und Graureiher. Und wer

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