Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
Vom Netzwerk:
besonders große. Ich holte sie aus der Tüte. Zu meiner Rechten hörte ich ein Knirschen im Kies. Es war MrKumar, der mit seinem üblichen Schlingergang ans Geländer kam.
    »Hallo, Sir.«
    »Hallo, Pi.«
    Der Bäcker, ein bescheidener, doch würdevoller Mann, nickte dem Lehrer zu, und dieser nickte zurück.
    Ein aufmerksames Zebra hatte meine Karotte bemerkt. Es drehte die Ohren und scharrte leise mit dem Huf. Ich brach die Karotte in zwei Hälften und gab die eine MrKumar, die andere MrKumar. »Danke, Piscine«, sagte der eine, »Danke, Pi« der andere. MrKumar war der Schnellere und hielt die Hand über den Zaun. Mit dicken, kräftigen schwarzen Lippen packte das Zebra gierig die Karotte. MrKumar ließ nicht los. Das Zebra biss hinein und biss eine Hälfte ab. Geräuschvoll kaute es den Leckerbissen ein paar Sekunden lang, dann schnappte es nach dem Rest, wobei die Lippen MrKumars Fingerspitzen berührten. Er ließ die Karotte los und streichelte dem Zebra die weiche Nase.
    Nun war MrKumar an der Reihe. Er verlangte nicht ganz so viel von dem Zebra. Als es die halbe Karotte zwischen den Lippen hatte, ließ er los. Sogleich beförderten die Lippen sie weiter in den Mund.
    Mr und MrKumar machten glückliche Gesichter.
    »Ein Zebra, sagst du?«, fragte MrKumar.
    »So heißen sie«, antwortete ich. »Sie gehören zur selben Familie wie Esel und Pferd.«
    »Der Rolls-Royce unter den Equiden«, sagte MrKumar.
    »Was für ein wunderbares Geschöpf«, sagte MrKumar.
    »Dieses hier ist ein Grantzebra«, erklärte ich.
    »Equus burchelli boehmi«,
sagte MrKumar.
    »Allahu akbar«, sagte MrKumar.
    »Wie schön es ist«, sagte ich.
    Wir standen da und sahen es an.

Kapitel 32
    Es gibt viele Beispiele für Tiere, die sich mit ungewöhnlichen Lebensbedingungen einrichten. Es handelt sich durchweg um das, was wir beim Menschen Anthropomorphismus und entsprechend bei den Tieren Zoomorphismus nennen: ein Tier sieht einen Menschen oder ein anderes Tier als Vertreter der eigenen Art an.
    Der berühmteste Fall ist zugleich der am weitesten verbreitete: der Schoßhund, der seine menschlichen Gefährten so sehr ins Reich der Hunde aufgenommen hat, dass er sich sogar mit ihnen paaren will - wie jeder Hundebesitzer, der schon einmal seinen verliebten Freund vom Bein eines verlegenen Besuchers zerren musste, bestätigen wird.
    Unser Goldhase verstand sich bestens mit dem südamerikanischen Paka, und die beiden schliefen wohlig aneinander gekuschelt, bis der Erstere gestohlen wurde.
    Von der Rhinozeros-und-Ziegen-Herde war schon die Rede, von Zirkuslöwen auch.
    Es gibt bezeugte Berichte über schiffbrüchige Seeleute, die von Delphinen über Wasser gehalten wurden, so wie diese Meeressäuger einander helfen, wenn sie in Not sind. Die Literatur erwähnt den Fall eines Hermelins, das mit einer Ratte zusammenlebte, andere Ratten jedoch sofort riss, wie Hermeline es gewöhnlich tun.
    Wir hatten selbst einmal einen Fall, wo das übliche Raubtier-Beute-Verhältnis aufgehoben war. Wir hatten eine Maus, die mehrere
Wochen
lang unter den Vipern lebte. Andere Mäuse, die wir ins Terrarium steckten, waren binnen zwei Tagen verschwunden, doch dieser kleine braune Methusalem baute sich ein Nest, legte mehrere Depots für die Körner an, mit denen wir ihn fütterten, und verbrachte seine Tage mitten unter den Schlangen. Wir fanden das so erstaunlich, dass wir sogar ein Schild aufstellten, das die Zoobesucher auf die Maus aufmerksam machte. Als das Ende schließlich kam, war es kurios: eine junge Viper biss sie. Wusste diese Viper nichts vom Sonderstatus der Maus? War sie nicht genügend sozialisiert? Wie dem auch sei, die junge Viper biss die Maus, doch verschlungen wurde sie - und zwar auf der Stelle-von einem erwachsenen Tier. Wenn es einen Zauber gab, dann hatte die junge Schlange ihn gebrochen. Von da ab ging alles wieder seinen Gang, und die Mäuse verschwanden binnen des üblichen Zeitraums im Vipernschlund.
    Hündinnen ziehen in Zoos oft Löwenbabys groß. Obwohl die Löwenkinder bald größer sind als die Betreuerin und auch weit gefährlicher, zeigen sie stets Respekt vor ihrer Mutter, und sie verliert nie den Gleichmut oder das Gefühl der Autorität über ihren Wurf. Schilder müssen aufgestellt werden, die erklären, dass der Hund kein Futter für die Löwen ist (wir mussten auch eines aufstellen, das darauf hinwies, dass Rhinozerosse Pflanzen fressen und keine Ziegen).
    Wie lässt sich Zoomorphismus erklären? Kann denn ein Nashorn nicht

Weitere Kostenlose Bücher