Schiffbruch Mit Tiger
Er leckte sich die Lippen. Er schüttelte den Kopf. Er beschnüffelte die tote Hyäne. Er reckte den Kopf in die Höhe und schnupperte die Luft. Er legte die Pranken auf die Heckbank und stemmte sich auf. Alle vier Füße hielt er weit auseinander. Das Schlingern des Bootes, auch wenn es derzeit nur leicht war, war sichtlich nicht nach seinem Geschmack. Er blickte über die Bootskante aufs offene Meer. Er stieß ein leises, drohendes Fauchen aus. Er schnüffelte noch einmal. Langsam drehte er den Kopf. Er drehte - drehte - drehte ihn immer weiter, bis er mir ins Gesicht blickte.
Ich wünschte, ich könnte beschreiben, was dann geschah. Nicht das, was ich sah - das wird mir vielleicht noch gelingen -, sondern das, was ich spürte. Ich sah Richard Parker aus der Perspektive, aus der er am besten zur Geltung kam: von hinten, halb aufgerichtet, den Kopf dem Betrachter zugewandt. Das Bild hatte etwas Künstlerisches, als hätte er sich in Szene gesetzt, um ein spektakuläres Kunstwerk zu schaffen. Und wie spektakulär es war, was für eine Kunst! Seine Präsenz war überwältigend, und nicht minder eindrucksvoll war die geschmeidige Eleganz. Seine Muskeln waren von unglaublicher Kraft, doch trotzdem war er schmal in den Hüften, sein schimmerndes Fell wirkte schlank. Sein Körper, leuchtendes Braunorange mit vertikalen schwarzen Streifen, war Schönheit in Perfektion, die makellos weiße Brust und der Bauch, der schwarz geringelte lange Schwanz wie die Accessoires eines Maßschneiders. Sein Kopf war groß und rund mit eindrucksvollem Backenbart, einem schicken Spitzbart und Schnurrhaaren, wie man sie selbst in der Katzenwelt kaum schöner findet, kräftig und lang und weiß. Oben saßen kleine, doch sehr bewegliche Ohren, die Rundungen perfekte Bögen. Die Nase im braunroten Gesicht war breit, die Spitze rosa, die Bemalung war mit energischen Strichen aufgetragen. Schwarze, gewellte Ringe umgaben das Gesicht mit einem Muster, das graphisch und doch nicht grob war, denn es lenkte die Aufmerksamkeit nicht auf sich, sondern auf den einen Teil, der nicht bemalt war, den Nasenrücken, dessen Rostrot geradezu glomm. Die weißen Flecken über den Augen, auf den Wangen und am Mund waren die letzten Retuschen, die vollends einen Kathakalitänzer aus ihm machten. Es war ein Gesicht wie die Flügel eines Schmetterlings, weise und irgendwie chinesisch. Doch als der Blick aus Richard Parkers bernsteinfarbenen Augen den meinen traf, da war er intensiv und kalt und unerbittlich, er hatte nichts Nachgiebiges, nichts Freundliches, nur eine Selbstbeherrschung stand darin, die jeden Moment zur Wut explodieren konnte. Seine Ohren zuckten. Dann machten sie eine volle Drehung. Er hob einen Mundwinkel, dann ließ er ihn wieder sinken. Der gelbe Reißzahn, den er so anmutig präsentierte, war so lang wie mein längster Finger.
Jedes einzelne Haar an mir hatte sich aufgerichtet und brüllte vor Furcht.
Und da erschien die Ratte. Wie aus dem Nichts saß plötzlich auf der Seitenbank eine struppige braune Ratte, aufgeregt und atemlos. Richard Parker schien genauso überrascht wie ich. Die Ratte sprang auf die Plane und kam auf mich zugerannt. Es war ein solcher Schock, dass mir die Beine einknickten, und ich fiel mehr oder weniger hinab in den Stauraum. Vor meinen ungläubigen Augen hüpfte der Nager über mein im Entstehen begriffenes Floß, sprang auf mich und kletterte hoch oben auf meinen Kopf, wo ich spürte, wie die kleinen Krallen sich an meinen Skalp klammerten und mit aller Kraft festhielten.
Richard Parkers Augen waren der Ratte gefolgt. Nun war sein Blick fest auf meinen Kopf gerichtet.
Langsam folgte der Körper der Kopfdrehung nach, mit den Vordertatzen auf der seitlichen Bank. Vorsichtig ließ er sich auf den Boden gleiten. Ich sah die Oberseite seines Kopfes, den Rücken und den langen, geschwungenen Schwanz. Die Ohren hatte er flach an den Kopf gelegt. Mit drei Schritten war er in der Bootsmitte. Ohne jede Mühe hob er den Vorderleib und legte die Pranken auf das zusammengerollte Ende der Plane.
Keine drei Meter trennten ihn von mir. Kopf, Brust, Pranken - wie entsetzlich groß! Seine Zähne - die Kraft einer ganzen Batallion zwischen zwei Kiefern. Er setzte zum Sprung auf die Plane an. Mein letzter Augenblick war gekommen.
Aber die nachgiebige Oberfläche irritierte ihn. Er drückte mit einer Pranke darauf. Er blickte sichernd auf - so offen an Licht und Luft war er ja nicht in seinem Metier. Er hatte Mühe, das Schlingern
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