Schiffbruch Mit Tiger
Beklommenheit weckte mich. Die Welle aus Nahrung, Wasser und Schlaf, die durch meinen geschwächten Körper lief und mir wieder die Kraft zum Leben gab, spülte zugleich auch die Erkenntnis herauf, wie aussichtslos meine Lage war. Ich wachte auf und wusste, dass Richard Parker da war. Dieses Rettungsboot hatte einen Tiger an Bord. Ich konnte es kaum glauben, aber ich wusste, dass es so war. Und ich musste mein Leben retten.
Ich überlegte, ob ich ins Wasser springen und einfach davonschwimmen konnte, aber mein Körper weigerte sich. Ich war Hunderte von Meilen vom nächsten Land entfernt, über tausend vielleicht. Eine solche Distanz konnte ich nicht schwimmen, auch nicht mit Rettungsring. Was sollte ich essen? Was sollte ich trinken? Wie sollte ich mich vor den Haien schützen? Vor der Auskühlung? Woher sollte ich wissen, in welche Richtung ich schwimmen musste? Wenn eines feststand, dann das: Das Boot zu verlassen bedeutete den sicheren Tod. Aber was gewann ich denn, wenn ich an Bord blieb? Nach Katzenart würde er sich anschleichen, lautlos. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hätte er mich schon am Hals oder im Nacken gepackt und mit seinen Reißzähnen durchlöchert. Ich würde nicht mehr sprechen können. Das Blut des Lebens würde aus mir herausströmen, ohne dass ich auch nur einen letzten Seufzer tun konnte. Oder er würde mich mit einem Schlag seiner gewaltigen Pranken töten, der mir das Genick brach.
»Ich muss sterben«, schluchzte ich mit bebenden Lippen.
Es ist schlimm genug, wenn man den Tod kommen sieht, doch noch schlimmer ist der Tod mit Wartezeit, in der man sich noch einmal vor Augen führt, wie glücklich man gewesen ist und wie glücklich man noch hätte sein können. Mit äußerster Klarheit sieht man alles, was man verliert. Eine so tiefe Traurigkeit stellt sich ein, dass kein Auto, das auf einen zurast, und kein Wasser, das sich über einem schließt, dagegen ankann. Nicht auszuhalten ist dieses Gefühl. Die Worte
Vater, Mutter, Ravi, Indien, Winnipeg
trafen mich mit all ihrer Macht.
Ich gab auf. Ich hätte aufgegeben - hätte sich in meinem Herzen nicht eine Stimme bemerkbar gemacht. Die Stimme sagte: »Ich sterbe nicht. Das lasse ich nicht zu. Ich werde diesen Alptraum überleben. So schlecht meine Karten auch sind, ich gewinne dieses Spiel. Bisher habe ich überlebt, das ist ein Wunder. Jetzt werde ich dafür sorgen, dass es bei dem Wunder auch bleibt. Von jetzt an wird jeder Tag ein unglaublicher Tag sein, dafür sorge ich, koste es, was es wolle. Jawohl, solange Gott bei mir ist, sterbe ich nicht. Amen.«
Mein Gesicht nahm einen grimmigen, zu allem entschlossenen Ausdruck an. Ich sage es in aller Bescheidenheit, aber dies war der Augenblick, in dem ich begriff, welch ungeheurer Lebenswille in mir steckt. Nach meiner Erfahrung ist das einem Menschen selten wirklich bewusst. Mancher von uns gibt mit einem einzigen resignierten Seufzer das Leben auf. Andere kämpfen ein wenig, dann verlieren sie den Mut. Wieder andere - und zu denen gehöre ichgeben niemals auf. Wir kämpfen und kämpfen und kämpfen, ganz gleich welche Opfer die Schlacht verlangt und wie gering die Aussicht auf Sieg sein mag. Wir kämpfen bis zum Letzten. Es ist keine Frage des Muts. Es ist etwas an unserem Charakter, das uns das Aufgeben einfach unmöglich macht. Vielleicht ist es nicht mehr als Lebenshunger mit einer großen Portion Dummheit.
In diesem Augenblick knurrte Richard Parker zum ersten Mal - als habe er gewartet, bis ich mich zum würdigen Gegner aufgeschwungen hatte. Es schnürte mir die Kehle zu.
»Jetzt aber los, Mann, schnell«, hauchte ich. Ich musste etwas für mein Überleben tun. Keine Sekunde war zu verlieren. Ich brauchte Deckung, und zwar sofort. Ich dachte an den Bugspriet, den ich mit einem Ruder gebastelt hatte. Aber jetzt war die Plane am Bug aufgerollt; der Rest hätte das Ruder nicht mehr gehalten. Und ich wusste auch nicht, ob es wirklich Sicherheit vor Richard Parker bedeutete, wenn ich am äußeren Ende eines Ruders hing. Wahrscheinlich musste er nur seine Pranke ausstrecken und mich mit der Kralle angeln. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen. Mein Verstand lief auf Hochtouren.
Ichbaute ein Floß. Die Ruderwaren, wie gesagt, aus schwimmfähigem Material. Und ich hatte Schwimmwesten und einen großen Rettungsring.
Mit angehaltenem Atem schloss ich den Deckel zum Stauraum und griff unter die Plane nach den Rudern auf den Seitenbänken. Richard Parker spürte es. Ich konnte
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