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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Rettungsboot festgezurrt war, könnten sich lösen, ein Hai könnte angreifen. Mit meinen Händen tastete ich unablässig die Knoten und Verschnürungen ab, versuchte sie zu lesen, wie ein Blinder die Brailleschrift.
    Im Laufe der Nacht wurde der Regen immer stärker, die See rauer. Das Boot riss nun eher an der Leine als dass es zog, und das Floß schaukelte immer stärker und ungleichmäßiger. Es schwamm, es machte jede Wellenbewegung mit, aber ich saß eben direkt über dem Wasser, und der Schaum jedes Brechers rann darüber und umspülte mich, wie ein Fluss einen Felsen umspült. Das Meerwasser war wärmer als der Regen, aber es sorgte dafür, dass in jener Nacht kein Faden an mir trocken blieb.
    Immerhin hatte ich zu trinken. Wirklich durstig war ich nicht, aber ich zwang mich dazu. Der Sammler sah aus wie ein umgestülpter Regenschirm, einer, den der Wind hochgeblasen hat. In der Mitte hatte er ein Loch, durch das der Regen abfloß. Dieses Loch verband ein Gummischlauch mit einem Beutel aus dickem, durchsichtigem Kunststoff. Anfangs schmeckte es nach Gummi, aber schon bald hatte der Regen die Vorrichtung ausgespült, und das Wasser schmeckte gut.
    In jenen langen, kalten, dunklen Stunden, als das Platschen des unsichtbaren Regens allmählich ohrenbetäubende Ausmaße annahm, konzentrierten sich meine Gedanken auf ein einziges Thema: Richard Parker. Ich spielte die verschiedenen Möglichkeiten durch, ihn loszuwerden, damit ich das Rettungsboot für mich allein hatte.
    Plan eins: Ich schubse ihn vom Rettungsboot.
Aber was hatte ich davon? Selbst wenn es mir tatsächlich gelang, ein 450  Pfund schweres wehrhaftes Raubtier vom Boot zu stoßen, blieb er ein guter Schwimmer. Aus den Sundarbans, den bengalischen Sümpfen, ist belegt, dass Tiger fünf Meilen in rauer, offener See schwimmen. Würde er sich unvermutet im Meer wieder finden, würde Richard Parker einfach zurückschwimmen, wieder an Bord klettern und mich dann für meine Untat büßen lassen.
    Plan zwei: Ich bringe ihn mit den sechs Morphiumspritzen um.
Aber ich hatte keine Ahnung, welche Wirkung sie auf ihn haben würden. Waren sechs Spritzen genug? Es war nicht ganz undenkbar, dass ich ihn einmal eine Sekunde lang überraschte, so wie der Jäger seine Mutter mit dem Betäubungsgeschoss überrascht hatte - aber
sechsmal hintereinander?
Undenkbar. Wenn ich ihn auch nur einmal piekste, würde er mir einen linken Haken versetzen, dass mein Kopf im hohen Bogen davonflog.
    Plan drei: Ich greife ihn mit dem gesamten vorhandenen Arsenal an.
Lächerlich. Ich war doch nicht Tarzan. Ich war ein winziger, schwächlicher, vegetarischer Mensch. Wer in Indien einen Tiger jagte, der ritt auf mächtigen Elefanten und schoss mit gewaltigen Büchsen. Was sollte ich denn machen? Sollte ich ihn mit Signalraketen beschießen? Sollte ich mich auf ihn stürzen, ein Hackbeil in jeder Hand, ein Messer zwischen den Zähnen? Ihm mit geraden und gebogenen Nähnadeln den Garaus machen? Wenn ich ihm auch nur einen Kratzer beibrachte, war das schon eine Leistung. Zur Rache würde er mich zerpflücken, Glied um Glied, die Organe eins nach dem anderen aus meinem Bauch holen. Denn wenn es eines gibt, was noch gefährlicher ist als ein gesundes Tier, dann ist es ein verletztes Tier.
    Plan vier: Ich erdrossele ihn.
Seil hatte ich genug. Wenn ich im Bug blieb und es mir gelang, das Seil zum Heck zu ziehen und ihm eine Schlinge um den Hals zu legen, dann konnte ich die Schlinge zuziehen, wenn er sich auf mich stürzte. Und gerade weil er über mich herfallen wollte, erwürgte er sich selbst. Gut ausgedacht, aber der reine Selbstmord.
    Plan fünf Ich vergifte, ich verbrenne ihn, setze ihn unter Strom.
Wie? Mit was?
    Plan sechs: Ich führe einen Zermürbungskrieg.
Ich musste ja nur warten, bis die gnadenlose Natur ihr Werk tat, und schon war ich gerettet. Wenn ich wartete, bis er allmählich verhungert war, brauchte ich überhaupt nichts zu tun. Ich hatte Vorräte für Monate. Was hatte er? Ein paar tote Tiere, die bald verdorben sein würden. Was würde er danach fressen? Und besser noch: Woher sollte er Wasser bekommen? Er konnte wochenlang ohne Nahrung durchhalten, aber kein Tier, und sei es noch so stark, überlebt lange ohne einen Tropfen Wasser.
    Ein leiser Hoffnungsschimmer glomm in mir, wie eine Kerze in der Nacht. Ich hatte einen Plan, einen guten Plan. Jetzt musste ich nur noch am Leben bleiben, damit ich ihn auch ausführen konnte.

Kapitel 55
    Es wurde Tag, und alles war nur noch

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