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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Tage ohne Wasser auskommen. Wenn Sie durstig sind, nehmen Sie einen Knopf in den Mund.
Schildkröten lassen sich leicht fangen und sind äu-ßerst nahrhaft. Ihr Blut ist ein guter, gesunder, salzfreier Trunk, ihr Fleisch ist wohlschmeckend und sättigend, ihr Fett lässt sich vielseitig verwenden, und der Schiffbrüchige wird feststellen, dass Schildkröteneier eine wahre Delikatesse sind. Nehmen Sie sich vor den Krallen und vor Bissen in Acht.
Lassen Sie sich nicht unterkriegen. Auch Rückschläge dürfen Sie nicht entmutigen. Vergessen Sie nie: Vor allem kommt es auf die Moral an. Wenn Sie den Willen zum Überleben haben, dann werden Sie überleben. Viel Glück!
     
    Es gab auch ausgesprochen kryptische Absätze über die Kunst und Wissenschaft der Navigation. Ich lernte, dass der Horizont, aus anderthalb Metern Höhe gesehen an einem Tag mit mäßigem Seegang, vier Kilometer entfernt ist.
    Die Ermahnung, keinen Urin zu trinken, war vollkommen überflüssig. Keiner, der in seiner Kindheit »Pisser« gerufen wurde, hätte sich jemals mit einem Tässchen Pisse an den Lippen sehen lassen, nicht einmal allein und in einem Rettungsboot mitten auf dem Pazifik. Und die gastronomischen Empfehlungen bestätigten mir nur, dass die Engländer nicht einmal wussten, was das
Wort
Essen bedeutete. Ansonsten war das Handbuch ein faszinierendes Werk, das einem in tausend Varianten erklärte, wie man dafür sorgen konnte, dass man nicht als Salzleiche endete. Nur ein einziges wichtiges Thema war ausgespart: der Umgang mit größeren Tieren an Bord.
    Ich musste Richard Parker dressieren. Ich musste ihm zu verstehen geben, dass ich der Alphatiger war und dass sein Revier sich auf den Bootsboden, die Heckbank sowie die Seitenbänke bis auf Höhe der mittleren Querbank beschränkte. Ich musste ihm einhämmern, dass alles, was oben auf der Plane und alles, was vorn im Boot lag, mit der Mittelbank als neutraler Zone,
mein
Territorium war und Zutritt ihm unter allen Umständen verboten war.
    Ich musste mich ums Fischen kümmern. Es würde nicht lange dauern, bis Richard Parker die Überreste der toten Tiere aufgefressen hatte. Im Zoo hatten die erwachsenen Löwen und Tiger im Schnitt zehn Pfund Fleisch pro Tag bekommen.
    Und das war nicht die einzige Aufgabe. Ich musste überlegen, wie ich mich vor den Elementen schützen konnte. Wenn Richard Parker die ganze Zeit unter der Plane blieb, dann hatte er seine guten Gründe dafür. Es war eine Anstrengung für den Körper, wenn man ständig draußen war, Sonne, Wind, Regen und Meer ausgesetzt, und nicht nur für den Körper, sondern auch für den Verstand. Hatte ich nicht noch eben gelesen, dass es binnen kurzem zum Tode führte, wenn man schutzlos den Elementen ausgeliefert war? Eine Art Dach musste her.
    Ich musste das Floß mit einem zweiten Seil am Rettungsboot festmachen, für den Fall, dass das erste riss oder die Knoten sich lösten.
    Das Floß selbst musste verbessert werden. Es war zwar seetüchtig, aber fahren konnte man kaum darauf. Ich musste es bewohnbarer machen, so lange bis ich mir ein festeres Quartier auf dem Rettungsboot einrichten konnte. Ich musste mir, um nur eines zu nennen, eine Möglichkeit einfallen lassen, wie ich darauf trocken blieb. Meine Haut war ganz schrumplig und aufgedunsen von der langen Zeit draußen im Regen. Das musste anders werden. Und ich musste auch überlegen, wie ich Vorräte mit aufs Floß nehmen konnte.
    Wichtig war, dass ich nicht mehr rund um die Uhr hoffte, ein Schiff würde mich retten. Ich durfte nicht darauf bauen, dass jemand von außen mir half. Ich selbst musste für unser Überleben sorgen. Für meine Begriffe ist für einen Schiffbrüchigen nichts schlimmer als wenn er zu viel hofft und zu wenig tut. Der erste Schritt zum Überleben ist ein offenes Auge dafür, was zur Hand ist und was als Nächstes getan werden muss. Wer in müßiger Hoffnung auf Hilfe wartet, der vertut sein Leben mit Träumerei.
    Es gab viel zu tun.
    Ich blickte hinaus zum leeren Horizont. Nichts als Wasser. Und ich war allein. Mutterseelenallein.
    Ich weinte heiße Tränen. Ich vergrub mein Gesicht in den verschränkten Armen und schluchzte laut. Ich hatte keine Chance.

Kapitel 59
    Allein oder nicht, verloren oder nicht, hungrig und durstig war ich trotzdem. Ich zog an dem Seil. Es hatte eine leichte Spannung. Sobald ich lockerließ, zog es sich wieder glatt, und der Abstand zwischen Floß und Rettungsboot wuchs. Das Rettungsboot bewegte sich also schneller als das

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