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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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kein Gesetz und keine Konvention, sie ist unerbittlich. Sie sucht sich bei jedem den schwächsten Punkt und findet ihn ohne Mühe. Sie beginnt ihren Angriff im Kopf, immer. Im einen Moment fühlt man sich noch ruhig, selbstsicher, glücklich. Dann schleicht die Angst sich in den Verstand wie ein Spion, gehüllt in den Mantel des leisen Zweifels. Man begegnet dem Zweifel mit Unglauben, und der Unglauben will ihn verscheuchen. Aber der Unglauben ist ja nur ein armer, schlecht bewaffneter Fußsoldat. In ein paar Zügen hat der Zweifel ihn besiegt. Man spürt eine Beklommenheit. Die Vernunft springt in die Bresche. Man ist beruhigt. Die Vernunft ist schließlich nach den neuesten Erkenntnissen der Waffentechnik gerüstet. Aber zu unserem großen Erstaunen unterliegt, trotz überlegener Taktik und einer Reihe von siegreichen Scharmützeln, auch die Vernunft. Wir spüren, wie wir schwach werden, unsicher. Aus der Beklommenheit wird Angst.
    Jetzt nimmt die Angst sich den Körper vor, der längst weiß, dass da etwas nicht stimmt. Längst schon sind die Lungen fortgeflogen wie ein Vogel, die Eingeweide winden sich wie eine Schlange davon. Jetzt lässt sich die Zunge fallen wie ein Opossum, und das Kinn galoppiert dazu auf der Stelle. Die Ohren werden taub. Die Muskeln zittern, als hätte man Malaria, und die Knie schlackern, als wären sie auf dem Tanz. Das Herz zieht sich zusammen, dafür weitet der Schließmuskel sich. Und immer so weiter, der ganze Körper. Jeder einzelne Teil versagt, jeder auf die Weise, auf die er es am besten kann. Nur die Augen bleiben aufmerksam. Sie registrieren jeden Schachzug der Angst genau.
    Nicht lange, und man macht Fehler. Man lässt seine letzten Verbündeten ziehen: Hoffnung und Vertrauen. Und schon hat man sich selbst besiegt: Die Angst, die doch nichts war als ein Hirngespinst, triumphiert.
    Es ist nicht leicht, diese Dinge in Worte zu fassen. Denn echte Angst, diejenige, die uns bis in die Grundfesten erschüttert, Angst etwa, die wir spüren, wenn wir dem Tod ins Auge blicken, nistet sich in der Erinnerung ein wie ein Faulbrand: Sie lässt alles verrotten, selbst die Worte, mit denen wir von ihr sprechen. Man muss um diese Worte ringen. Man muss kämpfen und das Krebsgeschwür ins Licht der Worte zerren. Denn wer das nicht tut, wer seine Angst im wortlosen Dunkel lässt, wem es womöglich sogar gelingt, sie zu vergessen, der öffnet sich jedem neuen Angriff der Angst, weil er mit dem Gegner, der ihn beim ersten Mal bezwang, nie wirklich gerungen hat.

Kapitel 57
    Es war Richard Parker, durch den ich Ruhe fand. Das ist die Ironie dieser Geschichte, dass gerade der, der mich zu Anfang so sehr ängstigte, dass ich darüber fast den Verstand verlor, am Ende derjenige war, der mir innere Ruhe und Lebenssinn gab, ja ich möchte fast sagen: Harmonie.
    Er sah mich forschend an. Nach einer Weile erkannte ich diesen Blick. Ich war damit aufgewachsen. Es war der Blick eines zufriedenen Tiers, das von seinem Käfig oder seiner Grube aus die Welt betrachtet, so wie unsereiner vom Restauranttisch nach draußen sehen würde, wenn nach einem guten Essen die Zeit gekommen ist, wo man plaudert oder dem Treiben auf der Straße zusieht. Offensichtlich hatte Richard Parker eine gute Portion Hyäne vertilgt und so viel Regenwasser getrunken, wie er wollte. Diesmal bleckte er nicht die Zähne, und er knurrte und fauchte auch nicht. Er betrachtete mich einfach, sah mir zu, ernst, doch nicht drohend. Er drehte die Ohren und legte den Kopf schief, bald in die eine, bald in die andere Richtung. Es war alles so, nun,
katzenhaft.
Er sah wie eine große, liebe, wohlgenährte Hauskatze aus, ein 450  Pfund schwerer Kater.
    Er stieß einen Laut aus, ein Schnauben durch die Nasenlöcher. Ich spitzte die Ohren. Er schnaubte noch einmal. Ich staunte. War das das Prusten?
    Tiger können eine ganze Reihe von Geräuschen machen. Es gibt mehrere Formen von Knurren und Fauchen, das lauteste darunter wohl das Aaonh aus vollem Halse, das Männchen und läufige Weibchen vor allem in der Brunstzeit ausstoßen. Es ist ein Schrei, der noch in größter Entfernung zu hören ist, und er lässt das Blut in den Adern gefrieren, wenn man ihn aus nächster Nähe hört. Tiger kommentieren es mit einem Wuff, wenn man sie überrascht, einer kurzen, klaren Explosion der Wut, heftig genug, dass man sofort das Weite suchen würde, wären die Beine nicht starr vor Schreck. Beim Angriff brüllt ein Tiger in kurzen, kehligen Stößen wie ein

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