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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Husten. Ebenfalls guttural, doch in anderer Tonlage, ist das drohende Knurren. Außerdem zischen und fauchen Tiger, was je nach der Stimmung, die sie damit ausdrücken wollen, klingen kann wie raschelndes Herbstlaub, nur ein wenig kräftiger, oder, wenn es ein wütendes Fauchen ist, wie eine riesige Tür, die sich langsam in rostigen Angeln dreht - und in beiden Fällen läuft es einem dabei kalt den Rücken herunter. Und das sind noch nicht alle Tigerlaute. Sie können brummen und stöhnen. Sie schnurren auch, wenn auch nicht so melodisch und so häufig wie Kleinkatzen und nur beim Ausatmen. (Nur die Kleinkatzen schnurren beim Ein- und beim Ausatmen. Das ist eines der Merkmale, an denen man die beiden Gruppen unterscheidet. Ein Zweites ist das Brüllen: Nur Großkatzen brüllen. Worüber man froh sein kann. Die Hauskatze würde wohl viel von ihrer Beliebtheit einbüßen, wenn eine Mieze ihr Missfallen durch Brüllen zum Ausdruck bringen könnte.) Selbst miauen können Tiger, mit einer ähnlichen Intonation wie die Hauskatze, allerdings lauter und tiefer, sodass es kaum jemand als Aufforderung ansehen würde, das Kätzchen auf den Arm zu nehmen. Und natürlich können Tiger auch majestätisch schweigen.
    All diese Laute hatte ich in meiner Kindheit gehört. Nur das Prusten nicht. Dass es so etwas gab, wusste ich nur, weil Vater mir davon erzählt hatte, und der wusste es aus seinen Fachbüchern. Nur ein einziges Mal hatte er es selbst gehört, auf einem Arbeitsbesuch im Zoo von Mysore, von einem jungen Tiger, der mit Lungenentzündung auf der dortigen Veterinärstation lag. Das Prusten ist unter allen Tigerlauten der leiseste, ein leichtes Schnauben, mit dem sie zu verstehen geben, dass sie friedlich und guter Absicht sind.
    Noch einmal hörte ich Richard Parker prusten, und diesmal rollte er mit dem Kopf dazu. Es sah aus, als wolle er mich etwas fragen.
    Ich sah ihn an, bestaunte ihn, so sehr er mich auch schreckte. Da keine unmittelbare Gefahr bestand, wurde mein Atem allmählich gleichmäßiger, mein Herz schlug mir nicht mehr ganz bis zum Halse, und mein Verstand kehrte nach und nach zurück.
    Ich musste ihn zähmen. Das war der Augenblick, in dem ich begriff, dass es keine andere Möglichkeit gab. Es ging nicht darum, ob er oder ich durchkam, sondern wir mussten
beide
durchkommen. Wir saßen, und das nicht nur im übertragenen, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes, im selben Boot. Wir mussten miteinander leben - oder miteinander sterben. Es war denkbar, dass er durch einen Unfall umkam oder dass er an natürlichen Ursachen starb, aber es wäre abwegig gewesen, sich auf einen so unwahrscheinlichen Fall zu verlassen. Eher war das Schlimmste zu erwarten: dass einfach nur die Zeit verstrich und seine robuste Natur mein schwächliches Menschenleben mühelos überdauern würde. Nur wenn ich ihn zähmte, konnte ich ihn vielleicht überlisten und es so einrichten, dass er vor mir starb, wenn denn nun wirklich einer von uns sterben musste.
    Aber das ist nicht alles. Ich will es nicht verschweigen. Ich will das Geheimnis verraten: Etwas in mir war froh, dass Richard Parker da war. Etwas in mir wollte nicht, dass Richard Parker starb, denn dann blieb ich allein zurück, allein mit meiner Verzweiflung, und das war ein Feind, der noch unbezwingbarer war als ein Tiger. Wenn ich überhaupt noch den Willen zum Leben hatte, dann verdankte ich ihn Richard Parker. Er sorgte dafür, dass ich nicht zu viel an meine Familie dachte, an das entsetzliche Unglück, das mir widerfahren war. Er drängte mich zum Leben. Ich hasste ihn dafür, aber zugleich war ich ihm auch dankbar. Ich
bin
ihm dankbar. Die simple Wahrheit ist: Ohne Richard Parker wäre ich heute nicht hier. Dass ich heute meine Geschichte erzählen kann, verdanke ich Richard Parker.
    Ich blickte in die Runde, hinaus zum Horizont. War das denn nicht die perfekte Manege, kreisrund, nirgends eine Ecke, in die er sich drücken konnte? Ich blickte hinunter zum Meer. War das nicht ein unerschöpflicher Vorrat an Leckerbissen, mit denen ich ihn belohnen konnte, wenn er gehorchte? An einer der Schwimmwesten baumelte die Pfeife. War das nicht eine gute Peitsche, mit der ich ihn in Schach halten konnte? Was fehlte mir denn, um Richard Parker zu dressieren? Die Zeit? Es konnte Wochen dauern, bis ein Schiff vorbeikam. Ich hatte alle Zeit der Welt. Entschlossenheit? Die schiere Not würde für Entschlossenheit schon sorgen. Die Sachkenntnis? War ich denn nicht der Sohn eines

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