Schiffbruch Mit Tiger
dass der Schwanz noch unter mir hervorschaute und heftig gegen das Floß schlug. Ich kam mir vor wie ein Rodeoreiter, der einen wilden Mustang bezwingen will. Ich war in ausgelassener Stimmung, vom Sieg berauscht. Die Dorade ist ein wunderschöner Fisch, groß, fleischig und schlank, mit einer gewölbten Stirn, die auf starken Charakter schließen lässt, einer sehr langen Rückenflosse, stolz wie ein Hahnenkamm, und einem glatten, glänzenden Schuppenkleid. Mir war, als hätte ich dem Schicksal einen Schlag versetzt, als ich einen solchen Gegner bezwang. Mit diesem Fisch rächte ich mich an der See, am Wind, an Schiffsuntergängen, an allen Umständen, die sich gegen mich verschworen hatten. »Ich danke dir, Vishnu, ich danke dir!«, rief ich. »Einst hast du in Gestalt eines Fisches die Welt gerettet. Jetzt kommst du als Fisch zu mir und rettest
mich.
Ich danke dir, ich danke dir!«
Das Töten war einfach. Ich hätte mir die Mühe erspart - schließlich war der Fisch für Richard Parker bestimmt, und der hätte es auf seine bewährte Art erledigt -, hätte nicht der Angelhaken in dem Fischmaul gesteckt. Eine Dorade an der Angel, da hatte ich allen Grund zum Jubeln — aber wenn an dem Haken ein Tiger hing, sah das anders aus. Ich rückte dem Problem sogleich zu Leibe. Ich packte das Beil mit beiden Händen und schlug es dem Fisch mit der stumpfen Seite heftig auf den Kopf. (Ich brachte es immer noch nicht fertig, die Seite mit der Klinge zu nehmen.) Im Todeskampf ging mit der Dorade etwas Unglaubliches vor: Sie leuchtete in rascher Folge in allen erdenklichen Farben. Blau, Grün, Rot, Gold und Violett huschten wie Neonblitze über den sterbenden Körper. Mir war, als erschlüge ich einen Regenbogen. (Später erfuhr ich, dass die Dorade berühmt ist für dieses Farbenspiel im Augenblick des Todes.) Als der Fisch endlich reglos, matt und grau vor mir lag, konnte ich den Haken herausziehen. Es gelang mir sogar, einen Teil meines Köders zu retten.
Man mag sich wundern, dass jemand, der noch kurz zuvor den Tod eines Fliegenden Fisches beweint hatte, nun plötzlich voller Genugtuung eine Dorade totschlagen konnte. Ich könnte es damit erklären, dass mich die skrupellose Art bekümmerte, in der ich den Navigationsfehler eines Fliegenden Fisches ausnutzen wollte, dass der mannhafte Fang einer Dorade hingegen mir Optimismus und Selbstsicherheit verlieh. Aber das ist nicht die Wahrheit. Die Erklärung ist einfach und hart: Der Mensch gewöhnt sich an alles, sogar an das Töten.
Von Jagdstolz erfüllt zog ich das Floß näher an das Rettungsboot heran. Ich brachte es längsseits und duckte mich. Mit einer schwungvollen Armbewegung schleuderte ich die Dorade ins Boot. Sie landete mit einem lauten Klatschen, das Richard Parker mit einem überraschten
Wuff
quittierte. Er schnüffelte ein- oder zweimal vernehmlich, dann hörte ich das schmatzende Mahlen seiner Kiefer. Ich stieß mich ab, jedoch nicht ohne vorher mehrmals kräftig die Trillerpfeife zu blasen, damit Richard Parker auch wusste, wer ihn so großzügig mit frischer Nahrung bewirtet hatte. Außerdem holte ich mir einige Zwiebacke und eine Dose Wasser. Die fünf Fliegenden Fische im Stauraum waren tot. Ich riss ihnen die Flügel ab, warf sie fort und wickelte die Fische in die Fischdecke, wie ich sie nun nannte.
Bis ich mir das Blut abgewaschen, mein Angelgerät gereinigt und verstaut und zu Abend gegessen hatte, war die Nacht hereingebrochen. Mond und Sterne verbargen sich hinter einem dünnen Wolkenschleier, und es war stockfinster. Ich war müde, aber noch immer aufgewühlt von den Ereignissen der vergangenen Stunden. Dass ich mir eine Aufgabe gestellt hatte, hatte mir gut getan; ich war so vertieft gewesen, dass ich nicht eine Minute lang an meine schlimme Lage oder an mich selbst gedacht hatte. Kein Zweifel: Fischen war ein besserer Zeitvertreib als Geschichtenerzählen oder »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Am Morgen würde ich weiterfischen, sobald es hell genug war.
Ich schlief ein, in Gedanken immer noch bei den Chamäleontönen, dem schimmernden Farbenspiel der sterbenden Goldmakrele.
Kapitel 62
In der Nacht wurde ich immer wieder wach. Als sich der Sonnenaufgang schon ankündigte, gab ich die Hoffnung auf, dass ich noch einmal einschlafen würde, und stützte mich mit beiden Ellenbogen auf. Ich hielt mir die Hände vor die Augen, und als ich sie fortzog, sah ich einen Tiger. Richard Parker war nervös. Er brummte und grollte und strich im Boot
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