Schiffbruch Mit Tiger
entdeckte den zweiten sowie den neuen Gegenstand daneben. Er richtete sich auf. Nun stand er mit dem gewaltigen Kopf über dem Eimer. Ich befürchtete, dass er ihn umkippen würde. Sein Gesicht, das knapp hineinpasste, verschwand darin, und ich hörte, wie er das Wasser aufleckte. Binnen kurzem ruckte der leere Eimer mit jedem Zungenschlag. Als er aufblickte, starrte ich ihm trotzig in die Augen und blies ein paarmal auf der Trillerpfeife. Er zog sich unter die Plane zurück.
Mit jedem Tag, ging mir auf, sah das Rettungsboot einem Zoogehege ähnlicher: Richard Parker hatte seinen Rückzugsbereich, in dem er schlafen und ruhen konnte, seine Futterstelle, seinen Ausguck und jetzt sogar sein Wasserloch.
Die Temperatur stieg. Die Hitze stach. Ich verbrachte den Rest des Tages unter meinem Baldachin und fischte. Anscheinend war jene erste Dorade Anfängerglück gewesen. Ich fing den ganzen Tag über nichts, nicht einmal am späten Nachmittag, wo die Meeresbewohner mich nur so umschwärmten. Eine Schildkröte kam vorbei, eine andere Art als die vorigen; es war eine grüne Meeresschildkröte, rundlicher und mit glatterem Panzer, aber auf ihre distanzierte Art genauso neugierig wie die Karettschildkröte. Wieder ließ ich sie ziehen, aber ich sagte mir noch einmal, dass das anders werden musste.
Das einzig Gute an der Hitze des Tages war, dass die Solardestillen einen prachtvollen Anblick boten. Jeder Kegel war an der Innenseite voller Kondenströpfchen, und das Wasser lief in Bächlein hinunter.
Der Tag ging zu Ende. Ich rechnete nach: Am nächsten Morgen war es eine Woche her, dass die
Tsimtsum
gesunken war.
Kapitel 63
Die Familie Robertson überlebte achtunddreißig Tage auf hoher See. Kapitän Bligh und seine Gefährten überlebten nach der berühmten Meuterei auf der
Bounty
siebenundvierzig Tage. Steven Callahan überlebte sechsundsiebzig. Owen Chase, dessen Bericht über den Untergang des Walfängers
Essex
nach dem Zusammenstoß mit einem Wal Herman Melville zu seinem Roman inspirierte, überlebte dreiundachtzig Tage auf See, zusammen mit zwei Gefährten und mit einem einwöchigen Zwischenstop auf einer unwirtlichen Insel. Die Familie Bailey überlebte 118 Tage. Ein Matrose der koreanischen Handelsmarine namens Poon soll in den fünfziger Jahren sogar 173 Tage auf dem Pazifik überlebt haben.
Ich überlebte 227 Tage. So lang dauerte meine Prüfung, mehr als sieben Monate.
Ich machte mir Beschäftigung. Das war ein Schlüssel zum Überleben. Auf einem Rettungsboot, sogar auf einem Floß, gibt es immer etwas zu tun. Mein normaler Tagesablauf, falls man bei einem Schiffbrüchigen von so etwas sprechen kann, sah etwa folgendermaßen aus:
Sonnenaufgang bis mittlerer Vormittag.
aufwachen
beten
Frühstück für Richard Parker
Floß und Rettungsboot gründlich inspizieren, dabei besonderes Augenmerk auf Knoten und Taue
Destilliervorrichtungen warten (auswischen, aufblasen, Wasser nachfüllen)
Frühstück und Überprüfung der Lebensmittelvorräte
fischen und gegebenenfalls Fang verarbeiten (Fisch ausnehmen, reinigen, in Streifen schneiden und zum Trocknen in die Sonne hängen)
Mittlerer Vormittag bis später Nachmittag.
beten
leichtes Mittagessen
ausruhen und leichtere Tätigkeiten (Tagebuch schreiben, Wunden und Verletzungen versorgen, Ausrüstung pflegen, im Stauraum herumkramen, intensive Beobachtung von Richard Parker, Schildkrötenknochen säubern usw.)
Spätnachmittag bis früher Abend:
beten
fischen und Fisch verarbeiten
zum Trocknen aufgehängte Fischstreifen versorgen (wenden, verdorbene Teile abschneiden)
Essensvorbereitung
Abendessen für mich und Richard Parker
Sonnenuntergang.
Floß und Rettungsboot gründlich inspizieren (nochmals Knoten und Taue überprüfen)
gewonnenes Trinkwasser aus den Destilliervorrichtungen sammeln und verstauen
alle Nahrungsmittel und Ausrüstungsgegenstände sicher verwahren
Vorbereitungen für die Nacht (Bett herrichten, Signalfackel auf dem Floß sicher unterbringen, falls Schiff auftaucht, ebenso Regenauffangbehälter, falls Regen)
beten
Nacht:
unruhiger Schlaf
beten
Die Vormittage waren in der Regel besser als die späten Nachmittage, wenn die Leere der Zeit mir allmählich aufs Gemüt schlug.
Vielerlei Zwischenfälle durchbrachen diese Routine. Bei Regen kam alles andere zum Erliegen, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit; solange es regnete, hielt ich die Auffangbehälter in die Höhe und war fieberhaft damit
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