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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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beschäftigt, das aufgefangene Wasser in Sicherheit zu bringen. Der Besuch einer Schildkröte sorgte ebenfalls für Aufregung. Und natürlich brauchte Richard Parker ständig Aufmerksamkeit. Sein Wohlergehen hatte Vorrang vor allem anderen. Er tat nicht viel außer essen, trinken und schlafen, aber es gab Zeiten, da erwachte er aus seiner Lethargie und durchstreifte sein Revier; dabei gab er allerlei Laute von sich und machte einen gereizten Eindruck. Zum Glück ließen Sonne und Seeluft ihn jedes Mal schnell ermüden, und er zog sich wieder unter die Plane zurück, legte sich auf die Seite oder auf den Bauch, den Kopf auf die gekreuzten Vorderpranken gebettet.
    Aber ich schenkte ihm mehr Aufmerksamkeit als unbedingt notwendig. Ich beobachtete ihn stundenlang, weil es eine willkommene Abwechslung war. Ein Tiger ist immer ein faszinierendes Tier, und das gilt erst recht für den Fall, dass er der einzige Gefährte ist.
    Anfangs hielt ich beständig Ausschau nach Schiffen, es war wie ein Zwang. Doch nach ein paar Wochen, fünf oder sechs vielleicht, hörte ich fast ganz damit auf.
    Und ich überlebte, weil ich mit Absicht vergaß. Meine Geschichte begann an einem Kalendertag - dem 2 .Juli 1977 -und endete an einem Kalendertagdem 14 .Februar 1978 -, doch in der Zeit dazwischen gab es keinen Kalender. Ich zählte weder Tage noch Wochen noch Monate. Die Zeit ist eine Illusion, die uns nur atemlos macht. Ich überlebte, weil ich vergaß, dass es so etwas wie Zeit überhaupt gab.
    Woran ich mich erinnere, das sind Ereignisse und Begegnungen und Routinen, Meilensteine, die hie und da aus dem Ozean der Zeit auftauchten und sich in mein Gedächtnis einprägten. Der Geruch von abgefeuerten Signalraketen, Gebete bei Tagesanbruch, das Töten von Schildkröten und die Biologie der Algen beispielsweise. Und vieles andere mehr. Aber ordnen kann ich meine Erinnerungen nicht. Sie sind und bleiben ein Durcheinander.

Kapitel 64
    Meine Kleider zergingen unter der Einwirkung von Sonne und Salz. Erst wurden sie fadenscheinig und dünn. Dann zerrissen sie, bis nur noch die Nähte übrig waren. Schließlich lösten auch die sich auf. Monatelang war ich splitternackt bis auf die Trillerpfeife, die ich an einer Schnur um den Hals trug.
    Salzwassergeschwüre - rot, beißend, hässlich - waren die Lepra der hohen See, übertragen durch das Wasser, dem ich ständig ausgesetzt war. Wo sie aufbrachen, war die Haut äußerst empfindlich; berührte ich zufällig eine wunde Stelle, so verschlug es mir den Atem, und ich schrie laut auf vor Schmerz. Natürlich entwickelten sich die Geschwüre an dem Körperteil, der auf dem Floß am stärksten strapaziert wurde und am meisten mit dem Wasser in Berührung kam: am Gesäß. Es gab Tage, an denen ich kaum wusste, wie ich mich legen oder setzen sollte. Zeit und Sonne ließen ein Geschwür abheilen, aber es dauert lange, und sobald ich wieder nass wurde, entwickelten sich neue.

Kapitel 65
    Ich brütete Stunden über dem Handbuch, um hinter das Geheimnis der Navigation zu kommen. Einfache Anweisungen, wie man auf See überlebte, gab es im Überfluss, aber nautische Grundkenntnisse setzte der Verfasser voraus. Als Schiffbrüchigen hatte er einen erfahrenen Seemann vor Augen, der mit Kompass, Seekarte und Sextanten in der Hand untergegangen war und nur nicht wusste, wie er sie halten musste, um zum nächsten Hafen zu finden. Das führte zu Sätzen wie: »Denken Sie daran: Zeit ist Entfernung. Vergessen Sie nie, Ihre Uhr aufzuziehen« oder »Notfalls ermitteln Sie den Breitengrad mit den Fingern.« Ich hatte auch einmal eine Uhr gehabt, aber die lag jetzt auf dem Grund des Pazifiks. Sie war mit der Tsimtsum untergegangen. Aber ich konnte den Breiten- nicht vom Längengrad unterscheiden. Ich wusste eine ganze Menge über das Meer, aber eben nur über diejenigen, die darin schwammen, nicht über diejenigen obendrauf. Wind und Strömungen waren für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Die Sterne sagten mir nichts. Ich hätte nicht ein einziges Sternbild nennen können. Wir zu Hause hatten uns nur nach einem Stern gerichtet: der Sonne. Wir gingen früh schlafen und standen früh auf. Sicher, ich hatte im Laufe meines Lebens in manch klarer Nacht den Sternenhimmel bewundert, wo die Natur mit nur zwei Farben und in einfachster Technik grandiose Bilder malt, und wie jeder Mensch hatte ich ehrfürchtig hinaufgeschaut und gespürt, wie klein ich war; es war ein Schauspiel, an dem ich mich durchaus orientierte, doch

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