Schilf im Sommerwind
dem verborgenen Wassertümpel; dort würde niemand sie jemals finden, vor allem nicht Tante Dana.
Sam Trevor stand vor den Teilnehmern seines Seminars in Yale und schob die Kassette in den Rekorder. Die Augen seiner Zuhörer waren ausnahmslos auf ihn gerichtet. Fünfundfünfzig Studenten, künftige Ozeanographen, sollten eine Kassette mit den Geräuschen von Walen hören, die sein Bruder und Caroline in Griechenland aufgezeichnet hatten.
»Sie werden einen unwiderlegbaren Beweis dafür erhalten, dass sich die Angehörigen der Gattung
Cetacea
in einer Sprache verständigen, die darauf wartet, übersetzt zu werden«, begann er. »Die Forschungsarbeit von Malachy Condon ist ein hervorragender Anfang, aber wir werden darüber hinausgehen. Sobald es mir gelingt, die Kassette einzulegen …«
Ein Mädchen im hinteren Teil des Raumes kicherte. Sams Brille verrutschte, aber er fing sie mit einer Hand auf und schob mit der anderen die Kassette ein. Er drückte die Play-Taste und blickte über das Meer der Gesichter hinweg.
»Uns bleiben nur noch zwei weitere Stunden bis zu den Abschlussprüfungen. Ich dachte, Sie halten heute Vorlesung«, sagte eine schwarzhaarige Studentin.
»Das hatte ich ursprünglich auch vor. Aber dann beschloss ich, die Wale für sich selbst sprechen zu lassen. In meiner Prüfung wird es um das heutige Thema gehen und, wichtiger noch, wie Sie das Gehörte interpretieren.« Dann verließ er, während die Kassette lief und die Studenten aufstöhnten, den Seminarraum, durchquerte den Korridor von Crawford Hall und begab sich zum Parkplatz der Fakultät.
Sam war ein verantwortungsbewusster Mann. Normalerweise scheute er die Pflichten nicht, die seine Lehrtätigkeit mit sich brachte, und er hoffte, dass man ihm diese Absicht auch heute nicht unterstellte. Aber er verspürte ein Bedürfnis, das jede Minute drängender wurde und ihn zu seinem VW -Bus trieb.
Als er am letzten Wochenende die Kunst- und Kulturseite der Tageszeitung aufgeschlagen hatte, um einen Blick auf die Kinofilme an der Küste zu werfen, hatte er ihren Namen entdeckt: Dana Underhill.
»Die Eröffnung der Ausstellung mit den Werken dieser Künstlerin findet am Donnerstag, den 17. Juni, von achtzehn bis zwanzig Uhr in der Black Hall Gallery statt. Ms. Underhill, die in Honfleur, Frankreich, lebt, wird persönlich anwesend sein.«
Sam hatte nicht damit gerechnet, sie jemals wiederzusehen. Er hatte das College besucht, graduiert und diverse Freundinnen gehabt. Erst als er einen Lehrstuhl in Yale erhielt, hatte er wieder an sie denken müssen. Es war eine subtile Erinnerung, nicht mehr als ein Bezugspunkt auf einer Landkarte, den er stets mit ihr in Verbindung gebracht hatte. Dana und ihre Schwester Lily stammten von Hubbard’s Point in Black Hall, knapp dreißig Meilen östlich von New Haven.
Sie hatte ihm das Segeln beigebracht. Er wäre in der Lage gewesen, den Sund entlangzusegeln, um Hubbard’s Point herum, und ihr zu zeigen, dass er alle Manöver beherrschte, die sie ihn gelehrt hatte.
Aber sie lebte nicht mehr in Connecticut. Ihre berufliche Laufbahn hatte sie ins Ausland verschlagen. Er wusste es von Lily, die er vor eineinhalb Jahren, gleich nach Antritt seiner Stelle in Yale, rein zufällig im Long-Wharf-Theater getroffen hatte. Sie war mit ihrem Mann dort gewesen und Sam mit seiner neuen Freundin, Claudia Barton. Die Erinnerung kehrte prompt und mit voller Kraft zurück, traf Sam mit der Wucht eines Tornados: Danas Schwester, Lily. Die zweite Lebensretterin im Bunde.
»Und wie geht es Dana?«, hatte Sam gefragt, nachdem Lily ihm erzählt hatte, was sich seit der letzten Begegnung in ihrem eigenen Leben zugetragen hatte.
»Sie ist so weit weg, Sam. Es wäre unerträglich für mich, wenn ich nicht wüsste, dass sie ihren Traum verwirklicht.«
»Ihren Traum?« Sams Hände hatten dermaßen gezittert, dass er sie in den Taschen seiner Jacke vergraben musste, damit seine Freundin nichts merkte.
»Jeden Ozean auf Gottes Erdboden zu malen. Sie hat an vielen Küstenstrichen gelebt und immer das Glück gehabt, ein kleines Haus mit Blick aufs Meer zu finden. Als ich dir das letzte Mal begegnet bin – wann war das noch gleich, vor acht oder neun Jahren?«
»Zehn«, hatte Sam einsilbig erwidert.
»Ach ja, richtig, in dem Jahr, als Quinn geboren wurde. Wie dem auch sei, weißt du noch, dass ich dir erzählte, Dana habe ein Haus auf Martha’s Vineyard gemietet?«
Sam hatte genickt, stumm vor Angst, Lily könne seine
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