Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
Ann-Isabel.
„Ja, das war es“, sagte Isabel. „Es war ein mulmiges Gefühl, sie zurückgelassen zu haben, doch als ich ihr Buch in den Händen hielt, wusste ich, dass es gut so war. Sie erlebte allerdings schon ein paar aufregende Dinge in ihrem Leben. Zum Beispiel schilderte sie ausführlich, wie man ihr, nachdem sie sich tagelang mit Zahnschmerzen herumgequält hatte, mit einem mit Keilriemen betriebenen Bohrer ein riesiges Loch in den Zahn bohrte, um Karies zu entfernen.“
Zur besseren Veranschaulichung verzog Isabel angewidert das Gesicht, und Ann-Isabel tat es ihr gleich.
„Ich werde aus ihren Aufzeichnungen ein neues Buch machen. Sie geben reichlich Stoff her“, sagte sie und lachte. „Aber warte. Eine Stelle muss ich dir vorlesen, mein Schatz.“
Sie griff nach dem Buch und blätterte vorsichtig die alten Seiten um, bis sie die gesuchte Stelle fand, und begann zu lesen.
Meine lieben Freunde, es ist ein seltsames Gefühl, hier zu sitzen und etwas zu schreiben, das ihr bereits in vollendeter Form gelesen habt! Denn ihr seid aus meiner Sicht vor zwei Tagen in die Zukunft gereist und sicher sofort auf die Suche nach meinen Aufzeichnungen gegangen, so dass ihr sie gelesen habt, bevor ich sie überhaupt zu Ende geschrieben habe. Ich glaube, diese Denkweise macht mich noch ganz verrückt, und Johannes kann das auch nicht nachvollziehen.
Liebe Barbara, ich will nicht, dass du traurig bist, dass ich schon rund hundertfünfzig Jahre tot bin, wenn du wieder zu Hause bist. Ich sage dir, ich bin nicht tot! Nicht einmal, wenn es ein Grab bei euch gibt mit meinem Namen darauf und meinen verrotteten Knochen darin. Ich habe ein ganzes Leben vor mir, und ich werde es leben, also keine Panik. Aus meiner Sicht seid ihr noch nicht einmal geboren! Ist das nicht irre? Ich werde das nie begreifen.
Liebe Anette, du fehlst mir sehr mit deinem ewigen Putzfimmel und deiner korrekten Art. Hier ist doch alles nicht so korrekt, und ich weiß, wie sehr du es gehasst hast. Besonders die Ratten. Ich wünsche dir viel Glück und eine große Familie.
Liebe Isabel und lieber Jack, ich hoffe, ihr heiratet und bekommt ein paar Kinder. Ihr seid ein tolles Paar, vergesst das nie. Wenn man sich auf so eine verrückte Weise kennen lernt, muss man einfach füreinander bestimmt sein. Johannes lässt Jack grüßen, und er schreibt anschließend ein paar persönliche Worte an ihn.
Eure Karin
Vielen Dank für alles, mein Freund. Ich hoffe, du wirst genauso glücklich in der Zukunft, wie ich es hier bin. Karin erzählt mir viel von deiner Welt, aber ich kann es mir kaum vorstellen. Obwohl sie sehr gut zeichnen kann und mir schon etliche merkwürdige Apparate gemalt hat. In nur sechs Stunden kannst du mit einem Fluggerät von Frankfurt in die Kolonien reisen? Dort sollen riesige Städte stehen und Kutschen ohne Pferde von ganz allein fahren? Ganz zu Schweigen von sich bewegenden Bildern in kleinen Kästen, aus denen sogar Stimmen dringen sollen. Das ist einfach unfassbar, und manchmal glaube ich, sie bindet mir einen Bären auf. Aber warum sollte ich ihr nicht glauben, nachdem ich mit eigenen Augen sah, wie sich die Körper von vier Menschen in Luft auflösten und verschwanden?
Isabel hörte auf zu lesen und sah ihre Tochter an.
„Das ist verrückt ... dieses Raum-Zeitproblem ... mir fehlen die Worte“, sagte Ann-Isabel verwirrt und schüttelte den Kopf. „Und was mir noch unklar ist: Welche Rolle spielte Anette in der ganzen Geschichte? Warum war sie dabei? Ich meine, Barbara ist mir klar, sie war nicht nur eure Krankenschwester, sondern beeinflusste bestimmt auch den Arzt im Hospital und rettete so vielleicht Leben.“
Jack und Isabel nickten.
„Karin sollte ihr Leben in einem anderen Jahrhundert leben. Hm ... vielleicht war es ein göttlicher Irrtum, dass sie zuerst in der Zukunft war?“
Sie lachten bei der Vorstellung, wie im Himmel ein paar Karteikarten durcheinander gekommen sein mussten.
„Aber Anette? Das verstehe ich nicht ganz.“
Jack kratzte sich am Kinn und überlegte.
„Ich denke die Antwort liegt im nicht so Offensichtlichen. Schau, nichts geschieht ohne Grund. Diese Reise brachte Anette mit Sicherheit wichtige Erkenntnisse, nach denen sie schon lange gesucht hatte. Eine Zeitreise erweitert den Horizont ungemein. Das Erkennen, dass es den Tod nicht wirklich gibt – demonstriert durch Matu – und dass es Zeit so, wie wir sie kennen, auch nicht gibt, verändert eines Menschen Weltbild.“
Ann-Isabel
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