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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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eigentlich dahinter kommt. Die einen sagen:
der Horizont. Anderen Quellen zufolge die Schlusskadenz der Engelsposaunen.
Verbürgt ist jedoch, dass wir ungefähr nördlich der Hellenen liegen, an den
Ufern des Himmelsozeans, über den nun wieder unsere unversenkbare
Wolkenflotte in Kiellinie zieht.
    Flora ist
einstweilen noch vorhanden, von der Fauna sind nur die Wipfel der Bäume da
draußen übrig, die aussehen wie Schwärme von Jungfischen. Der Wind scheucht
sie.
    Unsere
Fahne ist ein Chamäleon, die Gesetze lassen sich drehen, von Vulkanen ist mir
persönlich nichts bekannt.
    Die
hauptsächliche Frage, an der sich die imperialen Geister hier seit Generationen
scheiden, ist: Wer sind wir und wozu? Bei aller Augenscheinlichkeit - die
Antwort ist vage. Von vorne sind wir Sarmaten, von der Seite Hyperboreer, also
entweder Orotschen oder Tungusen. Und jeder ist ein Ministerium für sich. Pardon,
Mysterium wollte ich schreiben.
    Woran die
Leute hier glauben, ist primitiv, doch nicht ohne Poesie. Manche glauben
felsenfest, die Welt wäre eine große Elchkuh und der Wald ihr Fell, darin die
wilden Tiere als Parasiten hausen und die Vögel darüber als schwirrendes
Ungeziefer. So sieht sie aus, die Herrin des Universums. Und fällt es ihr ein,
sich an einem Baum zu scheuern, dann hebt das große Sterben an.
    Kurzum,
dieses Reich hat irgendwer zur besten aller Welten erklärt, und Euer ergebener
Diener ist in ihr - das wolltet Ihr doch wissen: ob nicht zufällig der Chef vom
Ganzen...? - nein, kein Chef. Aber wie sag ich es meinem lieben Nabuccosaurus,
welchen Geschäften wir hier nachgehen? Ich will einmal so sagen: Selbst diese
ängstlich schwärmende Fischbrut draußen vor dem Fenster, nicht ahnend, dass sie
nur Laub ist im Wind - selbst die glaubt, dass da für jeden einer sei, der auf
ihn wartet, an ihn denkt und ihn von Angesicht kennt: jedes Äderchen, jedes
Tüpfelchen. Davon bringt sie keiner ab. Und so kommen sie gekrochen aus allen
erdenklichen Welten, aus jedem Dorf ein Hund: Raubeine und Mimosen, Märtyrer
und Angehörige, Linkshänder und Rechtshänder, Racketeers und Taxidermisten.
Keiner versteht keinen. Und hier leiste ich Dienste. Meines Zeichens Dolmetsch
in der Flüchtlingskanzlei des Ministeriums für Paradiesverteidigung.
    Jeder
möchte was erklären. Hofft darauf, angehört zu werden. Dafür sind wir da,
Petrus und ich. Ich dolmetsche die Fragen und Antworten, Petrus schreibt auf
und nickt: Aha, und das soll ich Ihnen glauben. Petrus glaubt keinem. Stellt
sich zum Beispiel eine hin und sagt: »Ich bin eine einfache Hirtin, Findelkind,
kenne meine Eltern nicht, ein armer Ziegenhirte hat mich aufgezogen, Dryas mit
Namen.« Und schon geht es los, vom Hölzchen aufs Stöckchen: Bäume voller Obst,
Felder voller Korn, Wein an den Hängen, Herden auf den Wiesen, überall das
sanfte Zirpen der Zikaden und der Früchte süßer Wohlgeruch. Und dann: Piratenüberfall,
feindliche Invasion. Gepflegte Fingernägel leuchten auf im Licht des
Feuerzeugflämmchens. »Ich bin auf dem Dorf groß geworden, das Wort Liebe habe
ich nie einen sagen hören. Und Spiralen gab's für mich nur im Sofa. Ach, mein
geliebter Daphnis! Man hat uns getrennt, uns Unglückselige! Ein Stress am
andern. Mal will eine tyrische Clique sich prügeln, mal bläst Besuch aus
Methymna sich auf. Daphnis hat mich zu den Kunden begleitet, als Leibwächter.
Die Frisur entscheidet mit, wie der Tag läuft und letztlich das Leben. Sehen
Sie, was die mit meinen Zähnen gemacht haben? Meine Zähne taugen so schon nicht
viel. Die hab ich von Mama. Sie erzählte immer, wie sie als Kind den Putz vom
Ofen gepolkt und gegessen hat. Kalziummangel. Genauso hab ich, wie ich mit
Janotschka schwanger war, den Lehrern am Institut die Kreide geklaut und
geknabbert. Liebe ist wie der Mond - wenn sie nicht zunimmt, nimmt sie ab -,
aber die neue ist wie die alte, immer derselbe Mond.« - »War es das?«, fragt
Petrus. »Ja.« - »Dann hätten wir hier«, sagt Petrus, »noch Ihre bildschönen
Fingerabdrücke« - und zeigt sie ihr. »Wie? Was soll das heißen?«, fragt sie und
ist baff. »Das soll heißen, dass wir in unserer schönen Reichskartei Ihre
schmutzigen Finger drinhaben.« Und schmeißt sie achtkant raus. Noch aus dem
Fahrstuhl hört man sie brüllen: »Ihr seid doch keine Menschen, ihr seid doch
feuchter Lehm! Geformt hat man euch wohl, doch etwas einzuhauchen vergaß man!«
    Ein
anderer wiederum bringt keinen vernünftigen Satz zustande. Sprudelt aber

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