Schiwas feuriger Atem
Gabriel, im Brennpunkt der Scheinwerfer, breitete seine Hände aus und ließ seine Worte strömen.
»Die Antwort auf Schiwa ist die alte Art, die alte, bewährte Menschenart. Keine sinnlosen Versuche, ihn aufzuhalten! Nicht diese unnützen Raketenschiffe! Keine hektisch zusammengebastelten Höllenbomben! Nicht die atomare Zerstörung! Nein! «Seine donnernden Worte mischten sich mit dem beistimmenden Brüllen der Massen. Ein einziger Wille beherrschte die halbe Million Münder, die ihm ihre Zustimmung bekundeten. Langsam wendete sich Bruder Gabriel ins Licht, sah einen Fernsehmann begeistert die Fäuste schütteln, spürte die Schwingungen von Tönen und Gedanken. Jetzt waren sie wirklich sein, voll und ganz im Banne seines Wortes.
»Viel besser ist es, sich bereit zu machen. Verstärkt die Mauern eurer Häuser gegen den kommenden Sturm. Lagert Lebensmittel und Kleidung ein. Füllt eure Kraft! Verzettelt nicht euer innerstes Wesen mit nutzlosen Versuchen, dem Wirken der Naturgesetze in den Arm zu fallen!«
Er überrollte die Menge mit der Macht seiner Lautsprecher. »Wenn Schiwa kommt, kann es wohl geschehen, daß unsere Städte dem Erdboden gleichgemacht werden. Aber die Menschen werden bleiben, die Gläubigen werden bleiben. Das Leben wird weitergehen. Wir werden wieder einfache Bauern sein, mein Volk! Einfach und gut. Unkompliziert und tugendhaft. Wir werden inmitten grüner Felder leben, in der warmen Geschlossenheit der Familie, unter Freunden. In Dörfern und kleinen Städten, wo ihr jeden kennt und jeder euch kennt. Inmitten von Weizen, Gerste und Mais, unseren alten Gefährten auf dieser guten Erde. Natürliche Dinge! Keine Raketen! Keine Bomben! Kein Gift in der Muttermilch!«
Er richtete sich hoch, reckte drohend die Hände in den dunklen leeren Himmel. »Und wenn ihr Menschen seht, die unsere Substanz mit Raketen und Bomben verpuffen – laßt es nicht zu! Zeigt ihnen, daß Schiwa das Mittel Gottes ist, den Menschen zur Vernunft zu bringen! Laßt diesen Steinblock, der so alt ist wie die Zeit selbst, seinen letzten Zweck erfüllen, Gottes Zweck! Laßt niemanden sich ihm in den Weg stellen! Und ihr sollt gesegnet sein in Ewigkeit.«
Ein tosender Chor der Zustimmung wogte von den Hügeln, eine Klangmauer, die ihn körperlich anfiel. Die ungeheure, tiefe, fordernde Stimme des Volkes. Seines Volkes. Gütig lächelnd hob Bruder Gabriel beide Fäuste und schüttelte sie. Er konnte spüren, wie Gott durch ihn hindurchging, ihn erhob, ihn zu Seinem Gefäß machte. Jetzt war die Kraft in seinen Zuhörern, in den Massen. Sie konnten es tun. Nötigenfalls von ihm geführt, konnten sie den Wahnsinn der Regierung aufhalten, diesen gottlosen, unheiligen Versuch. Sie mußten es tun.
Und er würde sie führen.
Ja.
Auch das war Gottes Absicht.
31. Oktober: Kollision minus 6 Monate, 26 Tage
Diego kam ins Zimmer, setzte sich auf das militärisch glatte Bett und zog die Stiefel aus. Methodisch löste er die Senkel aus den Haken und verstrich dabei die Knicke zwischen den Fingern. Als er die Stiefel von den Füßen hatte, seufzte er, rollte sich aufs Bett und bog die Zehen.
»Turnschuhe wären bequemer«, sagte Lisa. Von ihrem Schreibtisch, wo ein Spezialhandbuch aufgeschlagen lag, hatte sie wortlos diesem Ritual zugesehen. Neben ihr stand der eingeschaltete, aber leere, nur leicht flimmernde Bildschirm des Computers.
Diego hatte die Arme mit den Unterarmen bedeckt. »Ich trage ganz gern Stiefel.«
»Okay«, antwortete sie, wandte sich wieder ihrem Handbuch zu und fuhr fort, einzelne Stellen mit gelbem Filzstift zu markieren. Er legte die Hände unter den Kopf und sah sich um. »Quartier nennen sie das. Ist auch grade groß genug für einen Viertelmenschen.«
Lisa lächelte, sagte aber nichts. Ihr Bildschirm flimmerte.
»Hoffentlich haben wir in Cape Canaveral mehr Platz.«
Sie nickte.
»Schweren Tag gehabt?« fragte Diego nach einem Weilchen.
»Mmmm.« Sie tippte etwas auf ihre Tastatur ein, warf einen Blick auf das Ergebnis, machte eine Notiz und löschte die Schrift auf dem Schirm.
»Ich habe Orr gesprochen«, murmelte Diego.
»Mmm.«
»Er hatte sich grade die Schlußberichte von dieser Sache in London durchgelesen.«
»Wozu? War doch die reine Kosmetik.« Sie sah nicht auf von ihrem Buch.
»Er wollte was Bestimmtes fragen, aber er wollte sich nicht einmischen, sagte er.«
»Einmischen.«
»Wegen dieses Zeitungsmenschen.«
»Was? Oh.« Sie unterbrach ihre Arbeit.
»Der Sicherheitsdienst hat
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