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Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird Kostenlos Bücher Online Lesen
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demonstrativ auf meine Uhr, doch die Zahlen tanzten wild über das Zifferblatt, und ich konnte den kleinen Zeiger nicht vom großen unterscheiden. »Es ist spät«, sagte ich trotzdem, »und ich muss sehr früh aufstehen.«
    »Ich hoffe, ich habe deine Gastfreundschaft nicht überstrapaziert.«
    »Überhaupt nicht.«
    »Wirklich nicht?«
    »Bestimmt nicht. Ich hatte einen sehr netten Abend.« Ich hatte plötzlich das seltsame Gefühl, dass sie mir einen Abschiedskuss geben wollte. »Das müssen wir bald mal wieder machen«, sagte ich, senkte den Kopf und führte Alison durchs Wohn- und Esszimmer in die Küche, wo ich prompt gegen den Tisch stolperte und beinahe in ihre Arme gesunken wäre.
    »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte sie, während ich mich bemühte, wenn schon nicht meine Würde, so doch zumindest das Gleichgewicht zu wahren. »Vielleicht sollte ich noch sehen, dass du gut ins Bett kommst.«
    »Mir geht es gut. Wirklich. Alles bestens«, wiederholte ich, bevor sie noch einmal fragen konnte.
    Alison war schon halb aus der Tür, als sie plötzlich stehen blieb, in die linke Tasche ihrer schwarzen Jeans griff und herumfuhr, eine Bewegung, bei der sich vor meinen Augen alles
drehte. »Das hätte ich fast vergessen – das habe ich gefunden.« Sie streckte die Hand aus.
    Selbst mit meinem Drehwurm und dem verschwommenen Blick erkannte ich das goldene Herz an dem feinen dünnen Kettchen in Alisons offener Hand. »Wo hast du das her?« Ich griff nach der Kette, die sich vor meinen Augen entrollte, sodass sie an ihrem Finger hing wie ein vergessener Lamettafaden an einem weggeworfenen Weihnachtsbaum.
    »Ich habe sie unter meinem Bett gefunden«, sagte Alison, unwillkürlich das Besitzrecht an den Gegenständen aus dem Gartenhäuschens beanspruchend.
    »Warum hast du denn unter dem Bett nachgesehen?«
    Alison wurde überraschend puterrot und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Es war das erste Mal, dass sie sich vor meinen Augen sichtlich unwohl in ihrer Haut fühlte. Als sie schließlich antwortete, dachte ich, ich müsse mich verhört haben.
    »Was hast du gesagt?«
    »Ich habe nach dem schwarzen Mann gesucht«, wiederholte sie einfältig und sah mich nur äußerst widerwillig an.
    »Den schwarzen Mann?«
    »Es ist albern, ich weiß, aber ich kann nicht anders. Ich tue es, seit ich ein kleines Mädchen war und mein Bruder mir eingeredet hat, dass sich unter meinem Bett ein Ungeheuer versteckt, das mich frisst, sobald ich einschlafe.«
    »Du guckst, ob sich unter deinem Bett ein Ungeheuer versteckt?«, wiederholte ich, weil ich die Vorstellung unerklärlicherweise überaus charmant fand.
    »In den Kleiderschrank gucke ich auch. Nur für alle Fälle.«
    »Und hast du je irgendwen entdeckt?«
    »Bis jetzt noch nicht.« Sie lachte und hielt mir die Kette hin. »Hier. Bevor ich es vergesse und sie mit nach Hause nehme.«
    »Sie gehört mir nicht.« Ich machte einen Schritt zurück,
wobei ich um ein Haar über meine eigenen Füße gestolpert wäre, und beobachtete, wie der Raum um neunzig Grad kippte. »Sie hat Erica Hollander gehört, meiner letzten Mieterin.«
    »Die Frau, die dir mehrere Monatsmieten schuldig geblieben ist?«
    »Höchstpersönlich.«
    »Dann würde ich sagen, die Kette gehört dir.« Alison versuchte, sie mir in die Hand zu drücken.
    »Du kannst sie behalten.« Mit Erica Hollander wollte ich nichts mehr zu tun haben.
    »Oh, das kann ich nicht annehmen«, sagte Alison, obwohl sich ihre Hand bereits um das Schmuckstück schloss.
    »Was man gefunden hat, darf man behalten. Komm, nimm sie. Sie ist … wie für dich gemacht.«
    Weiterer Überredung bedurfte es nicht. »Ja, nicht wahr?« Alison lachte, schlang die dünne Kette in einer einzigen fließende Geste um ihren Hals und ließ den winzigen Verschluss problemlos zuschnappen. »Wie sieht es aus?«
    »Als ob sie dorthin gehören würde.«
    Alison tätschelte das Herz an ihrem Hals und strengte sich an, im Dunkeln ihr Spiegelbild im Küchenfenster zu erkennen. »Ich finde sie wunderschön.«
    »Trage sie in guter Gesundheit.«
    »Und du glaubst nicht, dass sie sie vielleicht wiederhaben will, oder?«
    Nun musste ich lachen. »Das soll sie mal versuchen. Wie dem auch sei. Es ist spät, und ich muss schlafen.«
    »Gute Nacht.« Alison beugte sich vor und küsste mich auf die Wange. Ihre Haare rochen nach Erdbeeren, ihre Haut nach Babypuder. Wie ein Neugeborenes, dachte ich lächelnd. »Nochmals vielen Dank«, sagte sie.

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