074 - Der Sohn des Zyklopen
Dorian Hunters Notizen zur baskischen Religion.
Die Basken wurden im 6. Jahrhundert von den Westgoten in ein Gebiet zurückgedrängt, das von den Westpyrenäen bis zum Ebro reichte. Dort sind sie auch heute noch ansässig. Die Basken selbst nennen ihr Land Euskalerri.
Die Basken nahmen das Christentum bereits im 7. Jahrhundert an. Doch in den paar Tagen, die ich mich hier erst aufhalte, konnte ich feststellen, daß ihre alte Mythologie auch heute noch tief in diesen Menschen verwurzelt ist und lebt.
Mari war die oberste Gottheit der baskischen Religion. Sie war weiblichen Geschlechts und wohnte in der Unterwelt. Ihre unzähligen Diener traten durchwegs in Tiergestalt auf. Wenn Mari mit ihrem Gatten Maju zusammentraf, dann kam es zu Stürme und Hagelschauern.
Auch Lur, die Erde, war eine weibliche Gottheit.
Die Sonne Ehki war ihre Tochter und spielte bei den Sonnenkulturen eine bedeutende Rolle. Es herrschte allgemein die Ansicht, daß Ehki zur Sonnenwende am 24. Juni tanzend aufginge.
Eine zweite Tochter der Erdgöttin Lur war die Mondgöttin Illargui. Dieser Name bedeutet so viel wie: Licht der Toten. Es herrschte der Glaube, daß der Mond den Seelen der Verstorbenen leuchte. Und diese Totenseelen wurden guerixeti genannt. Das wird von dem Wort Schatten abgeleitet. Als Seele schlechthin galt argui - was Licht heißt.
Wie ich es verstanden habe, bezeichnen die Basken mit guerixeti das Böse, das die Verstorbenen den Lebenden hinterlassen, während argui das Gute im Menschen ist.
Dreizehn Jahrhunderte ist es her, daß das Christentum im Baskenland Fuß gefaßt hat, und doch scheint es mir, als hätte sich in dieser Zeit im Grunde genommen nicht viel geändert.
Die Dämmerung sank rasch über das Baztan-Tal und wurde fast übergangslos von der Nacht abgelöst.
Der Mann an dem schweren, grobgezimmerten Holztisch dachte: Ich werde es tun. Heute nacht. Ich muß ihn töten.
Auf der Kellertreppe ertönten Schritte, dann fiel Kerzenschein in den Raum. Eine Frau, den Kittel gerafft, um nicht daraufzutreten, kam herein. Sie war schön, und er liebte sie über alles. Im Kerzenlicht erschien sie ihm noch begehrenswerter.
„Warum machst du kein Licht?" fragte sie.
„Ich liebe die Dunkelheit", antwortete er. „Die Nacht hat tausend Augen. Ich fühle es, daß wir ständig beobachtet werden."
Die Frau stellte die Kerze auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber.
„Das bildest du dir nur ein", redete sie ihm zu. „Niemand hat etwas gemerkt. Hier sind wir sicher." Der Mann lachte rauh. „Wir sind nirgends sicher, solange wir diesen...
„Bitte, sei vorsichtig!“ flehte die Frau. „Du darfst so nicht über ihn sprechen. Wenn er dich hört... „Ah!" machte der Mann und ließ seine schwere Faust auf die Tischplatte sinken. „Du fürchtest dich selbst schon vor ihm. Und dann wunderst du dich, daß die anderen ihm nach dem Leben trachten." „Ich habe keine Angst", erwiderte die Frau. „Warum sollte ich mich vor meinem eigenen Fleisch und Blut fürchten? Ich will nur nicht, daß du so über ihn redest. Es würde ihn kränken."
„Bist du da so sicher?“
„Was?"
„Daß es dein eigenes Fleisch und Blut ist.“
"Bitte, fange nicht wieder damit an! Er ist unser Sohn. Ich habe ihn in meinem Leib getragen. Und ich habe ihn zur Welt gebracht. Auch wenn er einen körperlichen Makel hat, bleibt er unser Kind. Ich betrachte es als eine Prüfung Gottes, die wir gemeinsam zu bestehen haben."
Der Mann lachte wieder, blinzelte zur Kellertür und fragte dann seine Frau: „Schläft er?
„Ja, er ist sofort eingeschlafen."
Der Mann nickte zufrieden. Er fühlte sich nun sicherer und sagte mit etwas lauterer Stimme: „Du redest dir ein, dies sei eine göttliche Prüfung, aber ich sage dir, daß der Teufel seine Hände im Spiel hat. Tirso hat nicht nur einen körperlichen Makel. Er ist ein Ausbund der Hölle. Ein Scheusal. Eine... "
„Miguel!" Es klang wie ein Aufschrei. „Miguel, versündige dich nicht! Tirso ist auch dein Sohn. Du bist sein Vater, das, mußt du mir glauben."
Der Mann stieß die Luft durch die Nase aus. Die Frage lag ihm auf der Zunge, welche Ähnlichkeit Tirso denn mit ihm habe, aber er verkniff sie sich. Er wollte seine Frau nicht quälen. Er liebte sie - trotz allem. Und welche dunklen Mächte auch immer ihre Hände im Spiel gehabt hatten, welcher Teufel auch immer ihnen dieses böse Schicksal zugedacht hatte, seine Frau war ohne jede Schuld. Und nur weil er davon überzeugt war, ertrug er
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