Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
allerdings ziemlich benebelt gewesen, wie ich mich selbst erinnerte. Es war durchaus möglich, dass ich vergessen hatte, die Tür abzuschließen, so wie ich vergessen hatte, meinen Wecker zu stellen.
»Sie war offen. Ich habe erst geklopft, aber du hast nicht
geantwortet. Dann habe ich probiert, die Türe zu öffnen. Ich hatte gehofft, in deinem Medizinschrank irgendetwas zu finden, ohne dich aufzuwecken. Es tut mir so Leid.«
Ich blickte zum Badezimmer. »Das Stärkste, was ich im Haus habe, sind Tylenol forte.«
Alison nickte, als wollte sie sagen, dass das besser als gar nichts sei.
Ich ließ sie auf meiner Bettkante sitzen, während ich ins Bad eilte und die überwiegend nutzlosen Gegenstände in den Regalen durchwühlte, bis ich das kleine Fläschchen mit Tabletten gefunden hatte. Ich schüttete vier in meine offene Hand, füllte ein Glas mit Wasser und kehrte damit ins Schlafzimmer zurück.
»Nimm die«, wies ich sie an. »Morgen früh versuche ich, dir etwas Stärkeres zu besorgen.«
»Morgen früh bin ich tot«, sagte sie und versuchte zu lachen. Doch es kam bloß ein leises Stöhnen heraus, als sie die Tabletten schluckte und ihren Kopf an meiner Schulter vergrub, um sich vor dem schwachen Licht im Zimmer abzuschirmen.
»Das wird uns beiden eine Lehre sein«, sagte ich im Tonfall meiner Mutter, während ich ihren Arm streichelte und sie wie ein Baby sanft hin und her wiegte. »Du schläfst heute Nacht hier.«
Alison leistete keinerlei Widerstand, als ich ihr ins Bett half und die Decke über ihren Körper zog. »Was ist mit dir?«, fragte sie, die Augen schon geschlossen, offensichtlich ein Gedanke, der ihr erst im Nachhinein gekommen war.
»Ich schlafe in dem anderen Zimmer«, sagte ich.
Doch Alison hatte sich die Bettdecke bereits über den Kopf gezogen, und das einzige Anzeichen für ihre Anwesenheit waren die wenigen rotblonden Locken, die wie ein Fragezeichen auf meinem Kopfkissen lagen.
4
Als ich am nächsten Morgen aus dem Haus ging, schlief Alison noch.
Ich überlegte, ob ich sie wecken und in ihr eigenes Bett bringen sollte, doch wie sie so dalag, sah sie so friedlich aus, so verletzlich, und die weiche Röte ihres Haars hob sich so deutlich von ihren immer noch gespenstisch bleichen Wangen ab, dass ich sie einfach nicht stören wollte. Nach meiner Erfahrung brauchen Migräne-Leidende wie die meisten Trinker vierundzwanzig Stunden Schlaf, bis der Anfall überstanden ist. Ich rechnete mir also aus, dass es ziemlich wahrscheinlich war, dass Alison noch schlafen würde, wenn ich um vier nachmittags zurückkam. Wozu also sollte ich sie wecken?
Rückblickend war das zweifelsohne ein Fehler, wenn auch nicht mein erster in Bezug auf Alison und bestimmt nicht mein letzter. Nein, es war nur eine von vielen Fehleinschätzungen über den Charakter des Mädchens, das sich Alison Simms nannte. Aber rückblickend lässt sich das leicht sagen. Natürlich war es dumm, einer praktisch Fremden zu erlauben, sich unbeaufsichtigt in meinem Haus aufzuhalten. Natürlich habe ich den Ärger damit geradezu herausgefordert. Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass es sich damals nicht so angefühlt hat. Als ich Alison an jenem Morgen um kurz vor sechs nach insgesamt vielleicht vier Stunden Schlaf allein in meinem Haus zurückließ, fühlte es sich vielmehr ganz natürlich und selbstverständlich an. Worüber sollte ich mir letztendlich auch Sorgen machen? Dass sie mit
meinem Großbildfernseher verschwinden, sich eine Schubkarre organisieren, um die Porzellanvasensammlung meiner Mutter abzutransportieren, oder im Vorgarten einen Flohmarkt mit meinen Habseligkeiten veranstalten würde? Dass ich heimkommen und Haus samt Gartenhaus bis auf die Grundmauern niedergebrannt vorfinden würde?
Vielleicht hätte ich vorsichtiger sein sollen, argwöhnischer, weniger vertrauensselig.
Aber das war ich nicht.
Und wie geht noch das Sprichwort von den schlafenden Hunden?
Jedenfalls ließ ich Alison in meinem Bett schlafen. Wie Goldlöckchen, erinnere ich mich lächelnd gedacht zu haben, als ich in meinen klobigen Schwesternschuhen auf Zehenspitzen die Treppe hinunterschlich und die Haustür so leise wie möglich hinter mir schloss. Mein Wagen, ein fünf Jahre alter schwarzer Nissan, parkte in der Einfahrt neben dem Haus. Ich warf einen flüchtigen Blick über die Straße und hörte das leise Summen des Verkehrs ein paar Blocks entfernt. Die Stadt erwacht, dachte ich und wünschte mir, ich könnte meine weiße
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