Schlaflos in Seoul
gab.
Anfang August packte ich meinen Koffer. Im Gegensatz zu meinen sorgfältigen Reisevorbereitungen in den Jahren zuvor vergaß
ich vieles. Meine Garderobe stellte ich so ungeschickt zusammen, dass nichts so recht zusammenzupassen schien und ich mir
während des Monats in Korea permanent schlecht angezogen und schlampig vorkam.
August ist in Seoul vermutlich der unangenehmste Monat des Jahres. Die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit lassen einem die
Kleider am Körper kleben und jeder kurze Spaziergang wird zum Kraftakt. Der Smog legt sich wie ein Nebel |14| über die Stadt und die Intensität der Sonneneinstrahlung wird einem erst bewusst, wenn sich die Haut schmerzhaft rötet.
Meine ersten Tage in Seoul waren genau wie ich sie mir gewünscht hatte. Ich kannte nichts und niemanden. Ich sprach kein Wort
Koreanisch und die meisten Koreaner, die mir begegneten, sprachen kein Wort Englisch. Wenn ich essen wollte, ging ich in ein
kleines, billiges Restaurant und zeigte der Kellnerin einen Satz in meinem Reiseführer – die koreanische Übersetzung für »Haben
Sie vegetarisches Essen?«. Die Kellnerinnen kreuzten meistens die Arme vor der Brust, was – wie ich schnell herausfand – »Haben
wir nicht« bedeutet. Ich war irritiert, weil ich in Asien oder in den asiatischen Restaurants in Berlin bisher immer problemlos
vegetarisches Essen bekommen hatte. Die ersten Tage ging ich in die 2 4-Stunden -Läden der Kette 7eleven und ernährte mich von süßem Brot mit roter Bohnenpaste und Sojamilch. Dann fand ich ein vegetarisches
Restaurant namens »Dimibang«, dessen gut gelaunte, geschäftstüchtige Besitzerin Jennifer Kim und ihre Kellnerinnen mich heute
noch wie eine alte Freundin begrüßen.
Jeden Tag besuchte ich den Jogyesa-Tempel. Die großen Holztüren waren den ganzen Tag weit geöffnet. Ich nahm mir ein rostrotes
Meditationskissen und setzte mich zu den alten Damen, die vor drei goldenen Buddhas beteten und meditierten. Ich saß einfach
da und sah ihnen zu und niemanden schien meine Anwesenheit zu stören. Im Gegenteil, die alten Damen lächelten mir zu und sagten
etwas, das freundlich klang, von dem ich aber kein Wort verstand.
Von meinem Meditationskissen aus sah ich den alten Damen zu, wie sie ihre Finger über die Holzperlen ihrer Gebetsketten gleiten
ließen, wie sie Worte vor sich hin murmelten, die ich nicht verstand. Ich sah den kleinen Spatzen zu, die in den Tempel geflogen
kamen und an dem Obst herumpickten, das als Opfergabe für die Buddhas vorgesehen war. Niemand verjagte sie. Mich faszinierten
die Ruhe und Gelassenheit.
|15| Manchmal kamen Mönche, die auf kleine Trommeln schlugen, und im Rhythmus des Singsangs ihres Gebets verbeugten sich die alten
Damen, knieten sich nieder, senkten den Kopf und hielten ihre Hände wie zwei Schalen über den Kopf. Ich wusste nicht so recht,
was von mir erwartet wurde, also ahmte ich sie einfach nach. Es schien ihnen zu gefallen, dass ich mitmachte. Eine alte Dame
schenkte mir ein buddhistisches Gebetsarmband aus braunen Holzperlen, das ich so lange als Glücksbringer trug, bis es eines
Tages kaputtging.
Ich schlenderte durch das Viertel Insadong, das nicht weit vom Tempel entfernt liegt. Insadong ist berühmt für seine Teehäuser
und Cafés, für seine niedrigen traditionellen Holzhäuser, für seine Kramläden, in denen man koreanische Souvenirs kaufen kann
– kleine Täschchen, Essstäbchen, Fächer, Keramik, kunstvoll verzierte Dosen und Kalligraphien – und für seine Galerien, die
zeitgenössische koreanische Künstler ausstellen. Ich kannte den Fluxus-Künstler Nam June Paik. Mehr wusste ich über koreanische
Kunst nicht. Ich entdeckte junge Künstler, die Nam June Paik gefolgt waren und rätselhafte, eigenbrötlerische, irritierend-faszinierende
Installationen schufen, und ich sah die Arbeiten von anderen jungen Koreanern, die die alte Kunstform der Kalligraphie für
sich entdeckt hatten und neu belebten.
Alles, was ich an Korea am meisten liebe – »Dimibang«, den Tempel, Insadong, die zeitgenössische koreanische Kunst –, entdeckte ich in diesen ersten Tagen in Seoul. Alles, was mich an Korea stört und mich manchmal an den Rand eines Nervenzusammenbruchs
treibt, blieb mir in diesen Tagen noch verborgen. Ich war einfach eine dieser närrischen Touristinnen, die verzückt betrachten,
wie neben dem alten Königspalast ein neuer Wolkenkratzer hochgezogen wird, und das, wie alles
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