Schlaflos in Seoul
nach Berlin.
Irgendwann fing Joe an, davon zu reden, dass er nach Korea zurückmüsse. Ich versuchte, diesen Diskussionen aus dem Weg zu
gehen, weil ich nicht wollte, dass er fortging. Das Thema ließ sich aber nicht unbegrenzt aufschieben. Nach einem Jahr in
England genehmigte ihm seine koreanische Uni kein weiteres Urlaubssemester mehr. Daran ließ sich nichts ändern.
Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals aktiv dafür entschieden zu haben, nach Korea zu gehen. Mein Unterbewusstsein hatte
die Entscheidung schon längst für mich gefällt. Ich erwischte mich immer wieder dabei, wie ich im Internet nach |21| Informationen über Korea und vor allem nach Sprachschulen in Seoul suchte. Erst überlegte ich mir, für ein paar Monate zum
Koreanischlernen nach Seoul zu gehen – exotische Fremdsprachen machen sich immer gut im Lebenslauf. Dann änderte ich meine
Meinung und fand, dass ich mindestens ein Jahr bleiben müsse, weil ich schon lange die Erfahrung völliger Fremdheit machen
wollte – und das geht eben nur, wenn man länger als ein paar Monate bleibt.
Meine Entscheidung war gefallen. Ich konsultierte meine Eltern und meine Schwester und fragte, was sie von meinen Koreaplänen
hielten. Zu meiner größten Überraschung erklärten sie mich nicht für verrückt. Meine Schwester sagte: »Das klingt doch ganz
vernünftig. Probier es einfach mal aus. Nach Deutschland kannst du jederzeit zurückkommen.« Dann rief ich Joe in London an
und unterbreitete ihm meine Pläne. Er war so überrascht, dass er sagte, er müsse sich erst einmal hinsetzen. Als er sich von
dem ersten Schock erholt hatte, war er begeistert und von da an fing er jeden zweiten Satz an mit: »Wenn du nach Seoul kommst.«
Der schwierigste Teil stand mir aber noch bevor. Als ich meinen Berliner Freunden meinen Plan eröffnete, schrien sie auf –
aber nicht vor Freude. Es rührte mich, dass sie mich nicht so einfach gehen lassen wollten. Ich wollte selbst nicht aus Berlin
weg. Es war, als ob Joe auf der einen Seite und Berlin und meine Freunde auf der anderen Seite an mir zogen wie zwei Magnete.
Letztendlich war Joe der stärkere Magnet. Das machte es aber trotzdem nicht leichter, Berlin zu verlassen. Jedes Mal, wenn
ich mich von jemandem verabschiedete, sagte ich: »In einem Jahr bin ich wieder da.« – Ich wiederholte es beschwörend wie eine
Formel, als wollte ich nicht nur meine Freunde damit beruhigen, sondern auch mich selbst.
Ich kündigte meinen Job, meine Wohnung und sämtliche Daueraufträge. Meine Möbel teilte ich unter meinen Freundinnen und einem
Berliner Obdachlosenheim auf. Küchengegenstände |22| brachte ich zu einem Trödler, die Erlöse gingen an das Tierheim in Berlin-Lankwitz. Einen guten Teil meiner Garderobe verkaufte
ich in einem schicken Secondhand-Laden. Was noch übrig blieb, lagerte ich im Haus meiner Eltern ein.
Kurz darauf packte ich einen zwanzig Kilogramm schweren Koffer und setzte mich ins Flugzeug nach Seoul.
|23| Buchwissen und Realität
Jemand schubste mich und entschuldigte sich nicht einmal. Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu ärgern, denn schon wieder
schubste mich jemand. Zum dritten, vierten, fünften Mal, irgendwann hörte ich auf zu zählen. Zum ersten Mal ging ich zu Fuß
von meiner neu bezogenen Seouler Wohnung zur Ewha-Universität. Morgens um kurz vor neun Uhr waren viele Menschen auf der Straße.
Alle schienen es eilig zu haben – alle drängelten. Als ich nach einem fünfzehnminütigen Fußweg im Sprachzentrum der Ewha-Universität
ankam, war ich schlecht gelaunt und fragte mich, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, alle Asiaten seien höflich. Vielleicht
war derjenige nicht in Korea gewesen.
Geschubst wird in Korea nicht nur auf der Straße. In der U-Bahn wird um freie Sitzplätze gekämpft – und nicht nur um Sitzplätze. Einmal stand ich in einer überfüllten U-Bahn neben der Tür, wo ich mich bequem an einer Stange festhalten konnte. Ein junger Koreaner schob mich beiseite. Ich dachte
zuerst, dass er an der nächsten Station aussteigen wollte. Er stieg aber nicht aus, sondern platzierte einfach seine Freundin
an der Stelle, an der ich gestanden hatte.
Das schlechte Benehmen in der U-Bahn erinnerte mich an meine Studienzeit in Paris. In Städten wie Seoul oder Paris, wo Millionen Menschen dicht zusammengedrängt
auf engem Raum leben, entwickelt sich schnell eine Jeder-will-der-Erste-sein-Mentalität. Ich denke dabei immer an
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