Schlaflos in Seoul
die Wüstenspringmäuse,
die meine Schwester als Haustiere hielt, als wir beide |24| noch in der Grundschule waren. Wenn zu viele Mäuse in einem Käfig waren, fingen sie an, sich zu beißen und wir mussten sie
trennen.
Bevor ich nach Seoul kam, las ich alles, was ich an Literatur über Korea finden konnte: englischsprachige Reiseführer, die
wenigen deutschsprachigen Bücher über koreanische Kultur und Gesellschaft, die verfügbar waren, koreanische Romane in Übersetzung … Alles vermittelte mir das Gefühl, dass Koreaner besonders höfliche, gastfreundliche und einfühlsame Menschen sein müssen.
Zugegebenermaßen gibt es viele Koreaner, die diese angenehmen Eigenschaften besitzen. Einmal begegnete mir ein alter Mann
in der U-Bahn , der mich mit den Worten begrüßte: »Welcome to Korea! Have a nice day!« Im weiteren Verlauf des Gesprächs stellte sich heraus,
dass das beinahe die einzigen Worte waren, die er auf Englisch beherrschte. Er hatte sie nur einstudiert, um Ausländer, die
ihm begegneten, zu begrüßen.
Mindestens genauso viele Koreaner sind aber derart grobunhöflich, dass schon eine hohe Frustrationstoleranz nötig ist, um
die Ruhe zu bewahren – das stand leider in keinem dieser Bücher. Kleinigkeiten, wie das Verschicken eines Päckchens, wurden
zum Drama, wenn es sich als völlig nutzlos herausstellte, Schlange zu stehen, weil sich sowieso alle vordrängelten. Sich mit
aller Kraft zum Postschalter vorzukämpfen, mochte zwar ein kleiner Sieg sein, stellte sich aber als genauso erfolglos heraus,
weil der Postangestellte die sorgsam auf Koreanisch einstudierten Sätze nicht verstand und auch auf wildes Gestikulieren nicht
reagierte, sondern stattdessen den nächsten koreanischen Kunden bediente.
Not macht bekanntlich erfinderisch. Ich fand heraus, dass in großen Postämtern Wartenummern vergeben werden – was das Vordrängeln
nicht unmöglich machte, aber zumindest erschwerte. Da mein holpriges Koreanisch öfter Kommunikationsprobleme verursachte,
ging ich dazu über, vorher aufzuschreiben |25| , was ich sagen wollte, und im Notfall den Zettel vorzuzeigen. In schwierigeren Fällen – wie dem Abschließen eines Mobilfunkvertrags
oder dem Eröffnen eines Bankkontos – nahm ich Joe oder eine koreanische Freundin mit, die für mich übersetzen mussten.
In keinem der Bücher, die ich gelesen hatte, wurde auf mögliche Schwierigkeiten im Alltag hingewiesen. Ich fragte mich, wie
Ausländer zurechtkamen, die nicht Koreanisch sprachen und keine koreanischen Freunde oder Angestellten hatten, die ihnen behilflich
waren. Die Antwort war: gar nicht. Einmal beobachtete ich einen jungen Amerikaner in einem Handyladen. Er versuchte, sich
auf Englisch und mit Händen und Füßen zu verständigen. Noch bevor ich meine Hilfe anbieten konnte, verließ er frustriert den
Laden. In Serviceeinrichtungen, wie Postämtern, Supermärkten, Handyläden oder Banken, findet sich nur mit sehr viel Glück
englischsprachiges Personal. Manchmal bieten junge Leute – die meist passabel Englisch sprechen – spontan an, zu dolmetschen.
Viele »übersehen« aber absichtlich die missliche Lage, in die der ausländische Besucher geraten ist, weil sie zu schüchtern
sind, ihre theoretischen Englischkenntnisse praktisch anzuwenden.
Weniger Hemmungen haben die meisten Koreaner, wenn es darum geht,
über
Ausländer zu sprechen. Auf der Straße, in der U-Bahn , im Bus – eigentlich in jedem öffentlichen Raum – machen sich Koreaner aller Altersgruppen einen Spaß daraus, Ausländer zu
beobachten und deren Aussehen und Benehmen ausführlich zu kommentieren. Da die meisten davon ausgehen, dass Ausländer ohnehin
kein Koreanisch sprechen, nehmen sie sich dabei kein Blatt vor den Mund und machen sich auch nicht die Mühe, leiser zu sprechen.
So kann es schon vorkommen, dass eine der Sprache mächtige Ausländerin sich in der U-Bahn eine genaue Beschreibung der Form und Größe ihres Hinterns anhören muss.
Abfällige Bemerkungen können nicht nur zu üppig oder |26| zu mager ausgefallene Körperformen betreffen, sondern auch alle anderen physischen Merkmale, die in Korea als unattraktiv
gelten: Sommersprossen, Muttermale, Leberflecken, sichtbare Narben, dunkle Haut, gelocktes oder krauses Haar, Kurzhaarfrisuren
bei Frauen, Glatzen, krumme Zähne, überproportional große Augen – die als Zeichen von Ängstlichkeit gelten – oder hervorquellende
Augen, starke
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