Schlaflos in Seoul
fragte ihn,
was das Männchen darstellen solle. Er sagte: »Ich weiß es auch nicht. Meine Ex-Freundin hat das selbst gemacht. Ich habe es
behalten, weil sie sich damals so viel Mühe damit gegeben hat – auch wenn es hässlich ist.« Diese Einstellung fand ich sehr
sympathisch.
Das Umweltschutzprojekt stellte sich als ziemlich unspektakulär heraus. Im Wesentlichen mussten wir Garten- und Aufforstungsarbeit
machen. Ich stellte mich ziemlich ungeschickt an, hatte aber Spaß dabei, weil ich es sehr erholsam fand, einmal nicht vor
dem Computer zu sitzen, sondern im Freien zu sein und mit den Händen zu arbeiten. Glühwürmchen bekamen wir während der ganzen
Zeit kein einziges Mal zu Gesicht. Stattdessen vergnügten wir uns abends in Kneipen, Clubs und Karaokebars.
Unsere Gruppe wohnte in einem kleinen Gartenhaus, das aus nur einem Zimmer und einem schmuddeligen Badezimmer bestand. An
einem langen Holztisch aßen, tranken und spielten wir abends Karten. Außer Joe und dem Japaner Keichiro waren nur Mädchen
in der Gruppe – was aber sowohl Joe als auch Keichiro zu gefallen schien. Nachts räumten wir den Tisch weg, rollten dünne
Matratzen aus und schliefen alle |19| nebeneinander auf dem Boden. Joe sah mich ungeschminkt, mit zerzaustem Haar und dunklen Augenringen. Ich sah ihn ohne Kontaktlinsen,
mit einer recht unvorteilhaften Brille, verschlafen und ohne sein sonst perfektes Hairstyling mit viel Haargel. Gerade weil
wir uns in Situationen erlebten, in denen man eigentlich lieber nicht gesehen wird, stellte sich zwischen uns schnell eine
gewisse Vertrautheit ein.
Joe machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass er an mir interessiert war. Er fragte mich schamlos aus und versuchte so
viel Zeit wie möglich mit mir alleine zu verbringen. Einmal unternahm unsere Gruppe eine Bootstour auf dem Han, dem Fluss,
der durch Seoul fließt. Joe nahm mich unter einem Vorwand beiseite und erklärte mir geradeheraus, dass er völlig von mir fasziniert
sei. Ich sagte erst einmal gar nichts dazu. Ich war geschockt. So viel Ehrlichkeit war ich nicht gewohnt. Ich hatte Spielchen
erwartet und kleine zweckdienliche Lügen. Für romantische Geständnisse dieser Art war ich einfach zu nüchtern.
Joe war enttäuscht von meiner Reaktion. Wie er mir später erzählte, ließ er sich aber nicht entmutigen, weil ihm ein koreanisches
Sprichwort in den Sinn kam: »Frauen sind wie Bäume. Man kann sie nicht mit einem Schlag fällen.« Was meiner Meinung nach,
in der Übersetzung, leicht obszön klingt. Seine Hartnäckigkeit fand ich jedenfalls rührend und beeindruckend zugleich.
Als ich vor Jahren einmal ein Drehbuchseminar besuchte, erklärte die Dozentin, um einen kommerziell erfolgreichen Film zu
machen, müsse die zynische Figur immer eine Wandlung durchlaufen und durch eine Liebesgeschichte »butterweich« gemacht werden.
Ihr Beispiel für diese Art von Filmfigur war Jack Nicholson in ›Something’s Gotta Give‹. Auf einmal war ich in Jack Nicholsons
Rolle. Mit meinen fünfundzwanzig Jahren fühlte ich mich wie der mürrische alte Playboy im Film, der sich mit über sechzig
zum ersten Mal verliebt.
|20| Mein Monat in Korea verging schneller als mir lieb war. Als es Zeit für mich wurde, nach Deutschland zurückzufliegen, überlegte
ich fieberhaft, wie ich es anstellen sollte, Joe wiederzusehen. Ich hatte Glück. Joe wollte zum Studieren nach England gehen.
Er hatte mir gegenüber diese Pläne mehrmals erwähnt, nur hatte ich nicht mitbekommen, dass dieser Studienaufenthalt unmittelbar
bevorstand. Seine Abreise sollte drei Tage nach meinem Rückflug erfolgen. Nachdem unser Umweltschutzprojekt abgeschlossen
war, verbrachte ich noch ein paar Tage mit Joe in Seoul. Er schrieb mir einen wunderschönen Brief, den ich erst im Flugzeug
lesen durfte. Ich weinte ein bisschen beim Abschied. Dann ging jeder seine eigenen Wege.
Einige Tage nachdem ich wieder in Deutschland war, bekam ich eine E-Mail von Joe, der mir seine neue Telefonnummer mitteilte. Meine Telefonrechnung stieg rapide an. Einige Wochen später buchte ich
einen Flug nach London, um Joe zu besuchen. Wir verbrachten ein verlängertes Wochenende zusammen, gingen spazieren, aßen mehrmals
in dem gleichen billigen chinesischen Restaurant, redeten ununterbrochen – und hatten einfach sehr viel Spaß. Von da an pendelten
wir zwischen Berlin und London hin und her. Einmal im Monat flog ich nach England. Joe kam mehrmals
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