Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
McGovern jahrelang mit dieser Nummer getäuscht - ihn auch, jedenfalls manchmal -, und dies war nur eine
weitere (und ziemlich brillante) Variation des alten Schwindels.
    In Wirklichkeit versuchte sie, ihn hier festzuhalten. Sie liebte Nat von Herzen, aber wenn sie sich zwischen ihrem Mann und dem kleinen Mädchen am Ende der Straße entscheiden musste, fiel ihr die Wahl leicht. Für sie hatten weder das Alter noch Fragen der Fairness einen Einfluss auf die Situation. Ralph war ihr Mann; nur das allein zählte für Lois.
    »Das funktioniert nicht«, sagte er nicht unfreundlich. Er löste sich von ihr und ging wieder zur Tür. »Ich habe ein Versprechen gegeben, und meine Zeit wird knapp.«
    »Dann brich es!«, schrie sie, und die Mischung aus Verzweiflung und Wut in ihrer Stimme setzte ihn in Erstaunen. »Ich kann mich kaum noch an die Zeit erinnern, aber ich weiß, wir wurden in Ereignisse verwickelt, die uns fast das Leben gekostet hätten, und zwar aus Gründen, die wir nicht einmal verstehen konnten. Also brich es, Ralph! Besser dein Versprechen als mein Herz!«
    »Und was ist mit dem Kind? Was ist mit Helen , wenn wir schon dabei sind? Sie lebt nur für Nat. Verdient Helen nicht etwas Besseres von mir als ein gebrochenes Versprechen?«
    »Mir ist gleich , was sie verdient! Was sie alle verdienen!«, schrie sie, doch dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Nein, das stimmt nicht. Aber was ist mit uns , Ralph? Zählen wir denn gar nicht?« Ihre Augen, die dunklen, beredten spanischen Augen, flehten ihn an. Wenn er zu lange in sie hineinsah, würde es ihm allzu leichtfallen, die Sache aufzugeben, daher sah er schnell weg.

    »Ich werde es tun, Liebling. Nat wird bekommen, was du und ich schon gehabt haben - siebzig Jahre voller Tage und Nächte.«
    Sie sah ihn hilflos an, unternahm aber keinen Versuch mehr, ihn aufzuhalten. Stattdessen fing sie an zu weinen. »Dummer alter Mann!«, flüsterte sie. »Dummer, störrischer alter Mann!«
    »Ja, kann sein«, sagte er und hob ihr Kinn. »Aber ich bin ein dummer, störrischer alter Mann, der zu seinem Wort steht. Komm mit mir. Das würde mir gefallen.«
    »Gut, Ralph.« Sie konnte ihre eigene Stimme kaum hören, und ihre Haut war so kalt wie Ton. Ihre Aura war fast völlig rot geworden. »Was ist es? Was wird ihr zustoßen?«
    »Sie wird von einer grünen Ford-Limousine überfahren werden. Wenn ich nicht ihren Platz einnehme, wird sie über die gesamte Harris Avenue verspritzt werden … und Helen wird sehen, wie es passiert.«

16
    Sie gingen den Hügel hinauf zum Red Apple (anfangs ließ Lois sich zurückfallen und trabte wieder heran, ließ es aber sein, als sie merkte, dass sie ihn mit so einem einfachen Trick nicht aufhalten konnte), und Ralph erzählte ihr dabei das wenige, das er noch wusste. Sie konnte sich noch vage erinnern, wie sie unter dem vom Blitz gefällten Baum draußen an der Extension gewesen waren - eine Erinnerung, die sie, jedenfalls bis heute Morgen, als Erinnerung an einen Traum betrachtet hatte -, aber natürlich war sie
bei Ralphs letzter Konfrontation mit Atropos nicht dabei gewesen. Jetzt erzählte ihr Ralph davon - von dem zufälligen Tod, den Atropos Natalie erleiden lassen wollte, wenn sich Ralph seinen Plänen weiter in den Weg stellte. Er erzählte ihr, wie er Klotho und Lachesis das Versprechen abgerungen hatte, dass Atropos in diesem Fall überstimmt und Nat gerettet würde.
    »Ich habe eine Ahnung, dass … die Entscheidung … ziemlich weit oben an der Spitze dieses seltsamen Gebäudes … des Turms … getroffen wurde, von dem sie immer sprachen. Vielleicht … ganz oben.« Er stieß die Worte keuchend hervor, und sein Herz schlug schneller denn je, aber er glaubte, dass sich das größtenteils auf seinen schnellen Gang und den tropisch heißen Tag zurückführen ließ; seine Angst hatte etwas nachgelassen. Das immerhin hatte das Gespräch mit Lois bewirkt.
    Jetzt konnte er das Red Apple sehen. Mrs. Perrine stand aufrecht wie ein General, der die Truppe inspiziert, an der Bushaltestelle. Ihr Einkaufsnetz hing über einem Arm. Ein Unterstand befand sich hinter der Haltestelle, und darin war es schattig, aber Mrs. Perrine ignorierte seine Existenz hartnäckig. Selbst im grellen Sonnenlicht konnte er sehen, dass ihre Aura noch dieselbe graue West-Point-Farbe hatte wie an jenem Oktoberabend des Jahres 1993. Von Helen und Nat war noch nichts zu sehen.

17
    »Selbstverständlich wusste ich, wer er war«, erzählte Esther Perrine

Weitere Kostenlose Bücher