Schlagmann
»Furchtbar, dieser Presslufthammer.«
Nun war es still. Der Friedhof war klein und voller Menschen, die in Gruppen zusammenstanden, aber niemand sprach. Ich kannte viele von ihnen – Ruderkameraden und ihr Anhang, Trainer und Funktionäre vom Stützpunkt, schwitzend und unbehaglich in ihrer ungewohnten Kleidung. Die Gesichter verschlossen, manche betreten. Ich ging zu ihnen und schüttelte einem nach dem anderen die Hand, wir murmelten irgendetwas zur Begrüßung, dann wussten wir alle nicht mehr, was wir sagen sollten. Ein Stück weiter, vor einer Parkbank, hatte sich der Rest des Olympia-Achters eingefunden, Sam, Carol, Bernd, Thomas, Pedro und Konstantin – auch eine Art Familie, der jetzt ein Mitglied fehlte. Alle wirkten schlank und fit, aber irgendwie fremd. Sam trat auf mich zu, wir klopften einander ziemlich fest auf die Schulterblätter, aber es half nicht, wir brachten kein Wort heraus, und auch die anderen blieben stumm. Es war mir klar, dass es hier keinen gab, der es nicht vorgezogen hätte, woanders zu sein. Auch Scholz war da, plötzlich älter geworden, sein Gesicht zerfurcht, durch seine schwarzen Locken zogen sich graue Fäden.
Ganz vorne an der Kapelle sah ich ein buntes Häuflein, das keine Trauerkleidung trug, darunter zwei oder drei Männer, die genauso groß und blond waren wie Arne, seine Verwandten wahrscheinlich. In der Mitte der Gruppe seine Eltern. Ich hätte wohl hingehen müssen, um ihnen mein Beileid auszusprechen, aber das schaffte ich nicht, stattdessen fürchtete ich mich plötzlich davor, in die Welt einzudringen, die Arne immer vor uns verborgen hatte.
Scholz flüsterte mir zu, wir sollten während der Trauerfeier in der Kapelle in der zweiten Reihe hinter der Familie sitzen. Während er noch redete, fiel mir plötzlich ein, dass ich vergessen hatte, Blumen zu kaufen, doch er sagte mir, ich solle fünfzig Mark beisteuern für den gemeinsamen Kranz mit Schleife. Er deutete auf ein Riesenteil in Gelb, das neben dem Eingang auf einem Metallgestell drapiert war. Auf einer Seite der Schleife stand: Letzter Gruß – und auf der anderen waren unsere Namen gedruckt, meiner stand ziemlich weit unten, und ich fragte in die Runde, wer die Reihenfolge festgelegt hatte.
»Auf den Ergebnislisten stand ich immer weiter oben«, sagte ich zum Trainer und schämte mich sofort über meinen misslungenen Scherz. Die anderen reagierten nicht. Der Trainer deutete auf die Kapelle:
»Willst du ihn noch einmal sehen?«
Ich erschrak. Musste ich?
»Ich würde ihn am liebsten so in Erinnerung behalten, wie er zu unseren besten Zeiten war«, sagte ich. »Aber das geht natürlich schon längst nicht mehr. Ich habe ihn im Februar noch gesehen.«
Der Trainer schaute mich verwundert an.
»Ach. Im Februar? Ich dachte, ihr wärt Freunde geblieben?«
Weil mir keine vernünftige Antwort einfiel, sagte ich: »Und du?«
Er schaute auf die Spitzen seiner schwarzen Lederschuhe.
»Ich war vor ein paar Wochen bei ihm«, sagte er leise. »Ich hätte ihn fast nicht erkannt.«
Er flüsterte mir zu, dass am Stützpunkt schon mehrere Journalisten angerufen hätten, aber der Trainerstab habe beschlossen, die Wahrheit über Arnes Ende geheim zu halten. Er machte einen Schritt auf die Kapelle zu, wo Arne aufgebahrt war.
»Der Mann, der da drin liegt, ist ein Fremder für mich. Er ist es immer gewesen«, sagte er plötzlich in normalem Ton. Schließlich zerrte er ein Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit über die Augen. »Ich frage mich, ob ich versagt habe.«
Als er mein Zögern bemerkte, packte er meinen Ellbogen und schob mich in Richtung Kapelle. »Alle für einen«, sagte er.
Ich sah Anja alleine auf einer weiß lackierten Holzbank sitzen, die Hände im Schoß gefaltet, und wollte schon einen Bogen um sie machen, als sie aufstand und sich uns anschloss. Wir gingen in die Trauerkapelle, die dunkel und stickig war und nach den Lilien auf den Trauerkränzen roch. Wir schritten langsam zwischen den leeren Sitzreihen hindurch. Links und rechts von Arnes offenem Sarg brannten jeweils sechs dicke, weiße Wachskerzen, die zusätzliche Wärme produzierten. Ein Paar mit einem Kind stand davor, und wir mussten ein paar Augenblicke warten, bis sie weggingen.
Als ich näher trat, rann ein dicker Schweißtropfen mein Rückgrat hinunter. Meine Hände fühlten sich an wie nasse Watte.
Der Tote im Sarg trug einen förmlichen Anzug mit Fliege, sein Kopf lag auf einem weißen Kissen. Wer war das?
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