Schlangenfluch 2: Ravens Gift (German Edition)
Drinks zu spendieren? Um sich schicke Klamotten zu kaufen? Hier drin sah ihn niemand. Es war gleichgültig, ob er seinen Arsch in Seide oder Lumpen packte. Niemand würde sich dafür interessieren, nachdem er sein Gesicht gesehen hatte.
Tom ging zum Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Unten auf der Straße gingen Menschen vorbei, die ihr Leben lebten. Was lebte er? Lebte er überhaupt noch? Wahrscheinlich war er ein Gespenst, das seinen eigenen Tod nur noch nicht mitbekommen hatte. Was für ein erfrischend entspannender Gedanke. Gespenster brauchten sich vor den anderen nicht verstecken. Sie waren unsichtbar.
Tom öffnete das Fenster. Wenn Miyu käme, würde sie sonst über die abgestandene Luft klagen und noch schneller verschwinden. Am Anfang hatte er sie dafür gehasst. Jetzt hasste er nur noch einen Menschen auf dieser Welt.
Auch im Badezimmer roch es schlecht. Tom ließ die Tür aufstehen.
Ein Lufthauch wehte durch die Wohnung, erfasste das Tuch über dem Badezimmerspiegel. Es segelte auf die Fliesen.
Nicht hochsehen. Einfach das Tuch aufheben und mit geschlossenen Augen über den Glasrand hängen. Irgendwo musste Klebeband sein. Damit würde er es fixieren.
Er klammerte sich an den Rand des Waschbeckens, starrte auf die angetrockneten Zahnpastareste, die den Weg in den Siphon nicht geschafft hatten. Nicht hochsehen. Dort oben auf der Glasfläche erwarteten ihn Schluchten und Krater. Sie zogen sich quer über seine rechte Wange. Rot, geschwollen. Ein herunterhängendes Lid, ein triefendes Auge. Ein zur Hälfte vernarbter Mund, über dessen Unterlippe der Speichel lief. Dieser Mund hatte Samuels Lippen geküsst. Und Samuel hatte ihn entstellt. Mit einem einzigen Schlag ins Gesicht. Diese verdammten Schuppen hatten ihm die Haut von der Wange gerissen.
„Dein Tod für mein Gesicht, du Bestie.“ So furchtbar das Monster im Spiegel aussah, sein Wispern spendete Trost.
Es gab Tage, da lebte er nur für diesen Gedanken, Samuel Mac Laman büßen zu lassen. Dabei war dieser Traum von Rache lächerlich. Lächerlich wie er selbst. Woher den Mut nehmen, Samuel entgegenzutreten? Ihn zu bedrohen, ihn zu töten. Mit was? Allein mit seinem Hass?
Neben der Toilette stand ein Aschenbecher. Das Ding war schwer, hart. Tom holte aus. Glas splitterte. Wer kein Gesicht hatte, brauchte keinen Spiegel.
***
Das Ding im Käfig zuckte zusammen, als Raven das Licht anschaltete. Es kroch in die Ecke, zog dabei sein Bein durch eine Pfütze. Verfluchte Sauerei.
„Du hast einen Eimer zum Pissen. Benutz ihn gefälligst.“
Statt einer Antwort kam nur ein Wimmern.
War das Blut, das an den Gitterstäben klebte? Dann musste das gelbgrüne Zeug Eiter sein. Raven trat einen Schritt zurück. Um Nichts in der Welt würde er diese widerlichen Stangen mit bloßen Händen berühren. Das, was dahinter kauerte, schon gar nicht. Das hatte er nur einmal getan, um David in den Tod zu schicken, doch der ließ auf sich warten. Erstaunlich, wie resistent Davids Organismus seinem Gift gegenüber war. Er hatte ihn gebissen und in den Keller zum Sterben geschleppt. Dort wollte er ihn vergessen, dann entsorgen. Doch David hatte plötzlich nach Wasser gebrüllt. Raven hatte ihm den Eimer gefüllt und den Sterbenden damit in denselben Käfig gesperrt, in dem auch Laurens hatte leiden müssen. Aber David starb nicht. Im hintersten Kellergewölbe, weit von allen Ohren entfernt, die seine Rufe hätten hören können, atmete dieser stinkende Körper einfach weiter.
Ravens Magen krampfte sich zusammen. Das tat er jedes Mal, wenn er hier hinunter musste. Was hatte er sich nur aufgebürdet?
Und wenn er diesen halbtoten Mann tatsächlich hier unten vergaß? Wenn er vergaß, ihm Wasser und Nahrung zu bringen? Dann musste David sterben. Jeden Tag versuchte Raven, nicht in den Keller zu gehen. Nicht aus dem hinteren Gang das Wimmern zu hören, das ihn anflehte, ihn nicht zu vergessen. Es hatte sich in sein Hirn eingenistet, erinnerte ihn Tag und Nacht daran, dass es existierte. Was war er nur für ein erbärmlicher Feigling, dass er es nicht über sich brachte, diesen Mistsack krepieren zu lassen?
Wer hatte gesagt, Rache sei süß? War sie nicht. Sie war bitter. Für alle Beteiligten.
Raven stellte eine Wasserflasche dicht genug an den Käfig, dass David sie erreichen konnte. Auf dem Teller daneben fehlte kein Stück Brot.
„Keinen Hunger heute, Daddy?“ Er schnippte eine der trocken gewordenen Scheiben in den Käfig. „Sind dir die Zähne
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