Schlangenlinien
Berichts zu rütteln. Hat Miss Butts all diese Dinge tatsächlich gesprochen? Nein. Hat sie eine direkte Beschuldigung vorgebracht? Nein. Hat sie denn überhaupt etwas gesagt? Nein. Haben Sie jemanden davonlaufen sehen?, Nein. Es gibt also, abgesehen von einem ungläubigen Blick der Verstorbenen, keinerlei Indizien, die Ihre Behauptung, hier sei ein Mord geschehen, stützen würden? Nein.
Ich konnte ihnen ihre Skepsis nicht übel nehmen. Ihr Einwand, es sei höchst unwahrscheinlich, dass ich Annies Blick in diesem Moment auch nur halbwegs zutreffend hätte interpretieren können, war ja richtig. Es sei immer schwierig, sagten sie, sich mit einem plötzlichen Todesfall auseinander zu setzen, weil die dadurch hervorgerufenen Emotionen äußerst komplex seien. Sie wollten mir einreden, ich sei ein Opfer meiner eigenen durch den Schock der Entdeckung überreizten Phantasie, und boten mir psychologische Betreuung zur Überwindung des posttraumatischen Stresses an. Ich lehnte ab. Ich wollte nur Gerechtigkeit. Ich war überzeugt, dass sämtliche Nachwirkungen des Schocks, die mich noch plagten, sich schlagartig verflüchtigen würden, sobald Annies Mörder gefasst und verurteilt waren.
Doch dazu kam es nie.
Nach Würdigung der Obduktionsbefunde und der Zeugenaussagen, die im Lauf einer zweiwöchigen polizeilichen Untersuchung gesammelt worden waren, fällte der Coroner seinen Spruch und befand, dass Annies Tod ein tragischer Unfall gewesen sei. Er zeichnete das Bild einer Frau, die selbst in nüchternem Zustand größte Mühe gehabt hatte, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden, und an dem fraglichen Abend zu allem Überfluss stark getrunken hatte. Im Blut der Toten hatte man einen hohen Alkoholgehalt nachgewiesen, und vorüberkommende Autofahrer sowie mehrere Nachbarn hatten Ann Butts auf der Straße herumtorkeln sehen. Einer sagte aus, er habe versucht, sie zum Heimgehen zu überreden, jedoch aufgegeben, als sie ihn zu beschimpfen begann. Ihre Verletzungen – vor allem der Schädelbruch und die Fraktur des linken Armes – ließen unzweifelhaft darauf schließen, dass sie mit einem schweren Fahrzeug zusammengeprallt war, wahrscheinlich mit einem vorüberfahrenden Lastwagen, der sie zwischen die geparkten Autos und gegen den Laternenpfahl geschleudert hatte. In Anbetracht der schweren Regenfälle am fraglichen Abend war es nicht verwunderlich, dass weder Blut, Haare noch Gewebespuren an dem Laternenpfahl gefunden worden waren.
Der Tatsache, dass kein Autofahrer den Unfall bei der Polizei gemeldet hatte, wurde keine Bedeutung beigemessen. Es war dunkel gewesen, es hatte in Strömen geregnet, die geparkten Fahrzeuge sorgten für unübersichtliche Verhältnisse, die Straßenbeleuchtung war unzureichend. Mit einem Seitenhieb auf den Gemeinderat, der es zulasse, dass schlecht beleuchtete Straßen in ärmeren Gegenden zu Schleichwegen für den Schwerverkehr wurden, schloss der Coroner sich der polizeilichen Auffassung an, dass Miss Butts vom Bürgersteig gestolpert und direkt gegen einen vorüberkommenden Lastwagen gefallen sei, ohne dass der Fahrer es wahrscheinlich überhaupt bemerkt hatte; angesichts der Schwere der Verletzungen allerdings, die Ann Butts davongetragen hatte, war zu bezweifeln, dass sie nach dem Zusammenstoß noch länger als fünfzehn bis höchstens dreißig Minuten gelebt haben konnte.
Es sei ein trauriger Fall, erklärte der Coroner, der wieder einmal die dringende Notwendigkeit aufzeige, die Gefährdeten in einer modernen Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse durch Ausübung eines gewissen Zwangs zu schützen. Es gebe klare Beweise dafür – der verwahrloste Zustand ihrer Wohnung, als die Polizei diese am Tag nach ihrem Tod betrat, ihre Alkoholabhängigkeit –, dass Ann Butts nicht in der Lage gewesen sei, angemessen für sich selbst zu sorgen, und seiner Meinung nach wäre sie heute noch am Leben, wenn Sozial- und Gesundheitsamt sie hätten zwingen können, Hilfe anzunehmen. Die Zeugin, die Ann Butts gefunden hatte, habe eine rassistische Kampagne der Nachbarn gegen die Frau unterstellt, es gebe jedoch keinerlei Indizien, die das bestätigten, und er, der Coroner, gehe davon aus, dass das Handeln der Nachbarn einzig von der Sorge um das Wohlergehen von Ann Butts bestimmt gewesen sei. Schließlich und trotz des eigensinnigen Beharrens besagter Zeugin darauf, dass Ann Butts absichtlich vor ein fahrendes Fahrzeug gestoßen worden sei, sei er zu dem eindeutigen Urteil gekommen, dass Ann Butts das
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