SCHLANGENWALD
Irma zu diskutieren. Alles konnte gegen einen verwendet werden, alles wurde so lange gedreht, bis es in ihre Welt passte. Paulas Mutter, mit ihrem Hang zur Sternzeichendeuterei, hatte einmal voller Überzeugung erklärt, dass Tante Irmas Unleidlichkeit auf den Stachel zurückzuführen war, den Skorpion-Geborene angeblich ihr Leben lang mit sich trugen.
„Weißt du, die können nichts dafür. Die bekommen schon einen gewissen Charakter in die Wiege gelegt. Alles, was ihrem Weltbild nicht entspricht, wird angepasst, und wenn ihnen das nicht gelingt, dann setzen sie zur Vernichtung an“, versuchte sie Irmas Bösartigkeiten zu entschuldigen. Paula hatte für derlei triviale Erklärungen nichts übrig. Zwar grübelte sie ständig, ging Streitereien, so gut es ging, aus dem Weg und tat sich meist schwer, Entscheidungen zu treffen. Aber das auf ihr Sternzeichen Waage zurückzuführen, erschien ihr einfältig.
„Was macht eigentlich dein schwuler Mitbewohner, der dunkelhaarige Zigeuner?“, fuhr Tante Irma mit den Nettigkeiten fort. Vergangenes Jahr war Kurt so freundlich gewesen, Paula zum elterlichen Weihnachtsessen zu begleiten, als Schutzschild vor Tante Irma, die sich auch eingeladen hatte. Mit dem Ergebnis, dass er in Irmas Visier kam: Seine dunklen Haare irritierten die auf arische Blondschöpfe fixierte alte Dame.
„Tante Irma! Kurt ist gebürtiger Kärntner, Rechtsanwaltsanwärter und er war nie ein Zigeuner. Abgesehen davon, dass auch das völlig egal wäre. Aber ich habe das zu Weihnachten doch nur gesagt, um dich zu ärgern.“
„Papperlapapp! Niemand kann seine Wurzeln verleugnen. Einmal Zigeuner, immer Zigeuner. Da ändert auch ein Studium nichts. Es ist ein Wahnsinn, wer mittlerweile aller studieren darf. Und dann kommen diese grünen Anarchisten und fordern die Abschaffung der Studiengebühren und noch mehr Annehmlichkeiten für die Ausländer. Wenn jetzt schon die Zigeuner bei uns studieren, wohin soll das noch führen?“
Paula war nahe daran zu explodieren. Sie stellte sich vor, wie sie der alten Dame an die Gurgel sprang und zudrückte. Normalerweise neigte sie nicht zu Mordfantasien, aber bei Tante Irma … Zumindest hatte sie gute Lust, ihr klarzumachen, dass sie einiges missverstand. Aber der flehende Blick ihrer Mutter gebot Paula Einhalt, und so widmete sie sich den gebackenen Schnitzeln mit Kartoffelsalat.
„Was für ein Projekt machst du in Costa Rica?“, versuchte Eleonora Ender das Gespräch in eine positive Richtung zu lenken.
„Ich betreue die Informationskampagne für eine moderne Tourismusanlage …“
„Tourismusanlage! Wer bitte soll denn dorthin in den Dschungel fahren? Sicher nur lauter Verrückte oder Aussteiger, die ohnehin kein Geld haben“, wurde sie erneut von TanteIrma unterbrochen. Paula verstummte. Sie hatte keine Lust, sich ihren Erfolg, und als solchen empfand sie den Auftrag, madig machen zu lassen – weder von einer alten Schreckschraube noch von Markus. Ihre Eltern übernahmen die Konversation und erzählten vom Urlaub in Griechenland. Doch auch bei diesem Thema dauerte es nicht lange, bis Tante Irma sich einmischte und kein gutes Haar an den faulen, betrügerischen Griechen und dem verschmutzten Meerwasser ließ.
„Du hast vergessen, die Fliegen im Essen zu erwähnen“, ergänzte Eleonora Ender grinsend. Paula bewunderte den Humor ihrer Mutter. Sie persönlich war bereits nahe dran, die Salatschüssel über die weiße Lockenpracht der alten Schachtel zu kippen. Andererseits – schade um das gute Essen.
Erst als sie ihrer Mutter beim Abwasch half, konnte Paula ungestört von dem Projekt in Costa Rica erzählen. Die war begeistert und freute sich für sie.
„Kind, du bist nur einmal jung. Genieße deine Freiheit! Sobald du einmal verheiratet bist und Kinder hast, kannst du solche Gelegenheiten ohnehin nicht mehr am Schopf packen.“
„Mama, ich bin dreißig. Vielleicht werde ich niemals heiraten und Kinder bekommen.“
„Auch egal. Dann reist du eben mit vierzig oder sechzig auch noch um die Welt. Es soll dir nichts Schlimmeres passieren.“ Paula sah sie irritiert an. Das aus dem Mund ihrer Mutter, die immer wieder dezent auf das Ticken der biologischen Uhr hinwies und für die Familie das Um und Auf ihres Lebens war?
„Weißt du, Hauptsache, keiner von uns wird jemals so verbittert wie Tante Irma. Sie ist wirklich eine traurige Figur.“ Bei diesen Worten drückte sie Paula ein Sektglas in die Hand, nahm sich ebenfalls eines und schenkte
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