SCHLANGENWALD
ausgingen, dann teilten sie sich für gewöhnlich die Rechnung. Sicher lief diese Einladung von Kandin übers Spesenkonto, aber genießen würde sie den Abend dennoch.
„Fahrkarten bitte!“ Die schnarrende Stimme des Schaffners fegte Paulas Fantasien hinweg. Sie kramte in der Tasche, im Plastiksackerl, in das ihre Mutter Kuchen und einige Schnitzel eingepackt hatte, in den Jackentaschen. Der Fahrschein war nirgends zu finden. Paula wurde heiß. Sie war früher oft schwarzgefahren und nie erwischt worden. Heute hatte sie eine Fahrkarte, abersie konnte sie nicht finden. Wurde sie nun für diese früheren Vergehen bestraft, obwohl sie diesmal unschuldig war?
Der Mann mit dem Laptop sah ihr interessiert zu. Gerade als sie hektisch wurde und der Schaffner seinen Block zückte, mischte er sich ein.
„Ist das vielleicht Ihre?“
Paula nahm die Karte misstrauisch in Empfang. Wie kam sie in seine Hände? Hatte er ihre Sachen durchwühlt, während sie auf der Toilette war, und die Karte an sich genommen?
Als der Schaffner draußen war, lächelte der Mann sie an. Paula sah stur aus dem Fenster. Sie hatte keine Ahnung, wie der Typ zu ihrer Fahrkarte gekommen war, und sie wollte es auch nicht wissen. Er erwartete sich hoffentlich keinen Dank! Wäre ja noch schöner: zuerst klauen und dann den großen Retter spielen.
Der Mann bearbeitete wieder seinen Laptop und beachtete sie nicht weiter. Gut so. Paula freute sich auf ihr Zuhause, auf eine Tasse Tee, ein duftendes Bad, auf Kerzenlicht und kubanische Musik. Kuba war nicht weit von Costa Rica entfernt. Im Vorjahr schmiedeten Clea und sie Urlaubspläne, die sie auf die karibische Insel führen sollten. Sie hörten kubanische Musik, sahen sich Bildbände an und lasen Reiseberichte. Doch dann war alles anders gekommen, das Urlaubsgeld musste für offene Rechnungen verwendet werden.
Clea hatte die Diplomarbeit nicht geschafft und konnte daher einen Job nicht annehmen. Bei Paula waren die Aufträge ausgeblieben. Nach dem Aufenthalt in Costa Rica könnte sie bequem einen Abstecher nach Kuba einlegen, überlegte Paula. Nicht nur, weil die karibische Insel praktisch um die Ecke lag, sondern vor allem, weil sie es sich dann würde leisten können. Als der Zug am Franz-Josefs-Bahnhof einfuhr, stand Paula beschwingt auf, packte ihre Sachen und verließ mit einem knappen „Wiedersehen“ das Abteil.
Bei einem Kolporteur kaufte sie die Abendausgabe der „Presse“ und fand – auf der Suche nach Kleingeld – in der Tiefe ihrer Tasche auch den vermissten Fahrschein. Es war gar nicht ihr Ticket gewesen, das der Mann ihr gegeben hatte.
„Mein Gott, wie peinlich“, entfuhr es ihr. Hastig zahlte sie und sah sich um.
Da stand der Mann, mit der Laptoptasche in der Hand, und lächelte sie freundlich an.
„Verzeihen Sie, dass ich mich nicht bedankt habe. Gerade habe ich meinen Fahrschein gefunden. Ich dachte, ich dachte …“, sie wagte nicht einmal auszusprechen, was sie sich gedacht hatte. „Also haben Sie dem Schaffner einen von sich gegeben und ich habe mich nicht einmal bei Ihnen bedankt. Ich möchte Ihnen gern das Geld für das Ticket geben.“ Sie reichte ihm einen Zehn-Euro-Schein. Er winkte ab.
„Das ist schon in Ordnung. Eine Freundin ist, kurz bevor der Zug losfuhr, ausgestiegen. Den Fahrschein hat sie vergessen. Die Liebe … Ihr war es plötzlich wichtiger, bei ihrem Freund zu sein, als mit mir zu einem wichtigen Vortrag zu fahren.“ Er sagte das lächelnd, ohne zynischen Unterton. So ganz verstand Paula nicht, wie er das meinte, aber das war nicht weiter wichtig.
Sie verließen gemeinsam den Bahnsteig und plauderten noch eine Weile. Dann plötzlich sah der Mann erschrocken auf die Uhr. „Entschuldigen Sie. Ich muss in zwanzig Minuten bei einer Veranstaltung sein.“ Er kramte eine Visitenkarte hervor und drückte sie ihr in die Hand.
„Vielleicht haben Sie ja einmal Lust, unser Gespräch fortzuführen?“ Kein lasziver Blick, keine zuckende Augenbraue. Ein freundliches Angebot. Nichts weiter. Paula tat etwas für sie völlig Außergewöhnliches: Sie gab einem beinahe Unbekannten ebenfalls ihre Visitenkarte.
„Ah, Sie halten Seminare ab?“ Er versuchte die kleine Schrift zu entziffern.
„Ja. Und ich schreibe Texte für Firmen“, nutzte Paula sofort die Gelegenheit, für sich selbst Werbung zu machen. Frau konnte nie wissen, ob ihr Gegenüber nicht ein potenzieller Kunde war.
Auf seiner Karte stand nur der Name – Bernd Lowel. Kein Titel, kein Firmenname,
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