Schlehenherz
Generalschlüssel. Er brachte Vios Leiche in dem Lieferwagen, mit dem er die Schulsnacks auslieferte, zu dem Schlehenbaum im Moor, unter dem er sie vergrub. Niemandem war sein Wagen aufgefallen, denn das Auto stand ja tagtäglich auf dem Schulparkplatz, wenn er Pausensnacks verkaufte.
»Wir sehen immer nur das Neue, das Unbekannte. Das Gewöhnliche nimmt unser Gehirn nicht mehr wahr, es ist einfach selbstverständlich geworden«, erklärte mir die Kommissarin.
Und auch nachdem Vio ermordet aufgefunden wurde,kam niemand auf die Idee, den harmlosen, dicklichen Kioskverkäufer zu verdächtigen. Weil er Vios Laptop geklaut und damit seine Spuren verwischt hatte, fühlte Schäfer sich sicher. Aber er war angefixt von seiner Tat und dem Gefühl, das er dabei verspürt hatte. Als er mich nach Vios Tod mit meinem neuen Look und den dunkelroten Haaren sah, erwachte sein Jagdtrieb von Neuem. Auch mich verfolgte er von der Schule bis nach Hause.
Als ich zu Vios Schlehenbaum ging, musste er impulsiv beschlossen haben, mich in seine Gewalt zu bringen.
Nachdem ich ihm entkommen war, änderte er seine Pläne – nicht jedoch seine Absicht. Er machte mich bei schülerVZ ausfindig und schlüpfte im Netz erneut hinter die Maske des netten, verständnisvollen Jungen namens »Blauer Reiter«. Diesmal stellte er es besonders geschickt an: Weil er mich ja oft genug mit Vio zusammen gesehen hatte und wusste, dass ich die Freundin seines letzten Opfers war, tat er so, als würde er auch unter dem Tod eines guten Kumpels leiden. Auf diese Weise gewann er mein Vertrauen.
»Aber warum?«, hatte ich die Kommissarin gefragt. »Ich meine, es gibt doch viele Typen, die nicht aussehen wie Ashton Kutcher oder Robert Pattinson, aber sie haben trotzdem Freundinnen. Diese Jungs sind eben witzig … oder charmant …!« Dass ich dabei unwillkürlich an Grover denken musste, verdrängte ich sofort mit aller Macht.
Monika Held seufzte und ließ einen Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln, ehe sie ansetzte:
»Wir haben Schäfer von einem psychologischen Gutachter untersuchen lassen. Ich will versuchen, dir zu erklären, was in ihm vorging. Schäfers Mutter verließ die Familie, da war er vierzehn. Aber schon vorher hatte er keinebesonders schöne Kindheit gehabt. Sein Vater trank und verprügelte seine Frau und das Kind, wo sich die Gelegenheit bot. Als sie aus der gewalttätigen Ehe flüchtete, klammerte er sich an seinen Sohn und redete ihm ständig ein, dass alle Frauen schlecht wären. Und nur darauf warten würden, die Männer auszubeuten, um sie dann sitzenzulassen – wie seine Mutter es angeblich auch getan hätte.«
Die Kommissarin unterbrach sich und schüttelte den Kopf, ehe sie fortfuhr. »Andererseits kassierte er von seinem Vater regelmäßig Prügel und kriegte immer zu hören, was für ein Versager er wäre. Als Sohn und als Mann. Schäfers Selbstbewusstsein ging also gegen null. Er hat nie gelernt sich Mädchen auf ganz normale, unbefangene Art zu nähern. Deswegen hat er nur im Internet Kontakt zu ihnen aufgenommen. Dort konnte er sich neu erschaffen. Und in seiner Vorstellung wurde er dort mehr und mehr zum gut aussehenden Supertyp.«
»Klar«, platzte ich raus, »ist ja auch bequem. Im Prinzip kann sich jeder mit einem erfundenen Namen als ein ganz anderer verkaufen, der er eigentlich ist.«
Die Kommissarin nickte. »Exakt. Bei seinem ersten Opfer hat Schäfer den virtuellen Kontakt nur genutzt, um ihm aufzulauern, so abscheulich das auch ist. Bei deiner Freundin Viktoria schien es anfangs anders zu sein. Sie hat ihm zurückgeschrieben und offenbar hat er sich daraufhin Hoffnungen gemacht. Er dachte wohl, sie hätte sich tatsächlich in ihn verliebt, beziehungsweise in den, der er vorgab zu sein. Sein Fantasie-Ich schien also Wirklichkeit geworden zu sein …«
»Aber wieso hat er Vio umgebracht? Das ist doch total krank«, warf ich ein.
Monika Held sprach langsam weiter. »Sein ganzes Bildvon sich als tollem Hecht stürzte zusammen, als Viktoria schließlich vor ihm stand und nichts mehr von ihm wissen wollte. Schäfers Ego war empfindlich getroffen. Trotzdem wollte er sich holen, was sie ihm verweigerte. Also wurde er gewalttätig. Bestimmt hatte sie furchtbare Angst. So wie sein erstes Opfer, das Mädchen auf dem Fahrrad, auch. Aber jemand Schwächeren in seiner Gewalt zu haben verschaffte Schäfer nun endlich das Gefühl von Macht, das er sonst nie verspürte. Herr über Leben und Tod zu sein gab ihm einen
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