Schleichendes Gift
sprach. Trotzdem wollte sie keine Zeit damit verschwenden, ihn eines Besseren zu belehren.
Zwei Minuten später meldete er sich wieder und gab ihr pflichtbewusst die Nummer. »Danke«, sagte sie, legte auf und rief sofort Pannal Castle an.
»Hallo?« Die Stimme am anderen Ende klang vornehm und ungehalten. Carol stellte sich vor und entschuldigte sich, dass sie so früh anrief. »Schon gut«, meinte die Stimme. »Ich helfe der Polizei jederzeit gerne. Hier spricht Lord Pannal.«
Carol holte tief Luft. »Die Frage mag Ihnen seltsam vorkommen, Lord Pannal. Aber haben Sie zufällig einen Garten mit Giftpflanzen?«
Um halb zehn war Tony ein freier Mann. Die Schwester, die sich meistens um ihn gekümmert hatte, begleitete ihn zu seinem Taxi. »Tun Sie nicht zu viel«, warnte sie ihn. »Im Ernst. Es wird sich später rächen, wenn Sie sich nicht schonen.«
Er hatte seine Wohnung noch nie so sehr als sein Zuhause empfunden wie heute. Nichts war so praktisch wie im Krankenhaus. Aber dies war seine eigene kleine Welt. Seine Bücher. Seine Möbel. Sein Bett, seine Steppdecke, seine Kissen.
Er saß kaum fünf Minuten in seinem Lieblingssessel, als er einen Geistesblitz hatte. Wenn Rachel Diamond weder ferngesehen noch Zeitungen gelesen hatte, war es doch möglich, dass ihr bislang kein Foto von Yousef Aziz untergekommen war. Vielleicht hatte sie ihn zusammen mit ihrem Mann gesehen, ohne es zu wissen. Er musste sich vergewissern. Er musste ihre Reaktion auf ein Foto vom Mörder ihres Mannes sehen.
Er angelte sein Handy aus der Tasche und rief Carols Nummer an. Sie antwortete, klang aber ganz atemlos. »Jetzt nicht, Tony«, sagte sie. »Ich bin gerade mitten in einer Sache drin. Ich rufe dich in einer Stunde oder zwei an.« Und weg war sie. Eine Stunde oder zwei? In zwei Stunden würde er keine Energie mehr haben. Er würde im Obergeschoss unter der Decke ausgestreckt in seinem eigenen gemütlich warmen Bett schlafen wollen.
Na ja, sie konnte nicht behaupten, er hätte es nicht versucht. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn jemand mitgekommen wäre, wenn auch nur, um die Fahrt angenehmer zu machen. Aber Carol hatte ihm klargemacht, sie wolle nicht, dass er ihre Leute verleitete. Er würde also einfach im Alleingang handeln müssen.
Während er auf das Taxi wartete, rief er Stacey an und ließ sie die beste Porträtaufnahme von Aziz schicken, die sie hatten. Dann fiel ihm ein, dass seine Drucker oben waren. Also ließ er das Taxi warten, während er sich nach oben schleppte, das Foto ausdruckte und sich vor Schmerz krümmend wieder hinunterquälte. »Sie sehen ganz schön geschafft aus«, bemerkte der Taxifahrer und bestand darauf, ihm beim Einsteigen zu helfen.
»So fühle ich mich auch«, gestand Tony. Er lehnte den Kopf an den Sitz und war bereits eingeschlafen, als sie das Ende der Straße erreicht hatten.
Als der Taxifahrer ihn zwanzig Minuten später an der Schulter schüttelte, fuhr er hoch.
»Wir sind da«, verkündete der Mann.
»Können Sie warten?«, fragte Tony. »Ich dürfte nicht lange brauchen.«
Er brachte das Drama hinter sich, aus dem Taxi auszusteigen, strich sich das Haar glatt, denn der Taxifahrer hatte ihn darauf hingewiesen, dass es zerzaust war, und humpelte zur Haustür. Auf das Klingeln hin öffnete eine Frau in den Sechzigern. Sie sah aus wie eine jüdische Version von Germaine Greer, und aus ihrem widerspenstigen stahlgrauen Haar ragte tatsächlich ein Bleistift heraus. Sie sah ihn über ihre kleinen ovalen Brillengläser an. »Ja?«, fragte sie verwundert.
»Ich suche eigentlich Rachel«, sagte Tony.
»Rachel? Tut mir leid, dass Sie umsonst gekommen sind. Sie ist ins Büro gegangen. Ich bin ihre Mutter, Esther Weissman. Und Sie sind …?«
Bevor Tony sich vorstellen konnte, erschien Lew neben seiner Großmutter. »Ich kenne Sie. Sie sind gestern mit der Polizistin hier gewesen.« Er sah zu seiner Großmutter auf. »Ein Mann hat ihn mit einer Axt verletzt.«
»Wie bedauernswert«, meinte Mrs. Weissman. Lew schlüpfte an ihr vorbei und reckte den Hals zur Seite, damit er das Foto sehen konnte, das Tony an seine Krücke gedrückt hielt.
»Warum haben Sie ein Bild von Mummys Freund?«, wollte er wissen.
Bestürzt stützte sich Tony auf die Armschalen und hielt das Bild richtig herum hoch. »Das ist Mummys Freund?«
»Wir haben ihn einmal im Park getroffen. Er hat mir ein Eis gekauft.«
Mrs. Weissman versuchte, einen Blick auf das Foto zu werfen. Als Tony klarwurde, dass das, was er
Weitere Kostenlose Bücher