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Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Titel: Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudyard Kipling
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in hohem Maße daran. (Es ist schon lange her, noch ehe Lord Gufferin aus Kanada und Lord Ripon aus dem Schoß der englischen Kirche Vizekönige waren.) Infolgedessen hatten alle Leute, die nicht daran gewöhnt waren, diplomatische Geheimnisse mit sich herumzutragen, unglückliche Gesichter. Und der Vizekönig war stolz darauf, seiner Beamtenschaft einen Begriff von Verschwiegenheit beigebracht zu haben.
    Nun hat aber die hohe Regierung die leichtsinnige Gewohnheit, ihre geheimsten Pläne dem Stempelpapier anzuvertrauen. Auf diesen Bogen werden alle möglichen Dinge behandelt: von der Zahlung von zweihundert Rupien an einen im Geheimdienst verwandten Eingeborenen bis zu Verweisen an »Vakils« und »Motamids« einheimischer Staaten und Schreiben an einheimische Fürsten, denen anbefohlen wird, Ordnung zu halten, keine Frauen zu stehlen oder Übeltäter mit gestoßenem roten Pfeffer vollzupfropfen, und ähnliche Dinge mehr. Selbstverständlich sollen derartige Extravaganzen nicht an die Öffentlichkeit kommen, denn offiziell fehlen einheimische Fürsten nie, und offiziell sind ihre Staaten nicht minder gut verwaltet als die unsrigen. Ebenso eignen sich außerordentliche Zuschüsse an gewisse fragwürdige Persönlichkeiten nicht gerade zur Bekanntgabe in den Zeitungen, wenn sieauch manchmal eine interessante Lektüre bieten. Wenn die hohe Regierung in Simla ist, werden auch dort diese Schreiben verfertigt und in Aktenmappen oder durch die Post den Adressaten zugestellt. Dem damaligen Vizekönig war seine Theorie ebenso wichtig wie die Praxis. Er war daher der Ansicht, daß ein wohlwollender Despotismus wie der unsrige selbst Kleinigkeiten wie die Anstellung eines Unterbeamten nicht vorzeitig in die Öffentlichkeit dringen lassen dürfe. Er hatte stets ungewöhnlich starke Grundsätze.
    Eine Reihe sehr wichtiger Akten war damals in Vorbereitung. Sie sollten von einem Ende Simlas zum anderen von Hand zu Hand weitergegeben werden. Sie steckten nicht in einem amtlichen Umschlag, sondern in einem großen, viereckigen mattrosa Kuvert. Das Manuskript bestand aus dünnem, weichem Papier. Die Adresse lautete: »An die Hauptkanzlei usw. usw.« Nun ist zwischen einem verschnörkelten »An die Hauptkanzlei usw. usw.« und zwischen einem »An Mrs. Hauksbee« kein allzu großer Unterschied, zumal wenn die Adresse in einer schlechten Handschrift geschrieben ist. Der Amtsdiener war nicht dümmer, als Amtsdiener gewöhnlich sind. Er hatte nur vergessen, wo dies höchst unamtlich aussehende Kuvert abzugeben war und bat darum den ersten besten Engländer, der gerade in großer Eile nach Annandale ritt, ihm die Adresse vorzulesen. Der Engländer warf nur einen flüchtigen Bück darauf, sagte: »Mrs. Hauksbee« und eilte weiter.
    Ebenso machte es der Amtsdiener, denn der Brief war der letzte in seiner Mappe, und er wollte rasch mit seiner Arbeit fertig werden. Da er keine Unterschrift brauchte, steckte er den Brief Mrs. Hauksbees Diener in die Hand und ging gemütlich rauchend mit einem Freunde weiter. – Mrs. Hauksbee erwartete gerade Schnittmuster aus dünnem Papier von einer Freundin. Wie sie die große viereckige Sendungerhielt, rief sie: »Ach, das rührende Geschöpf!«, schnitt das Kuvert mit einem Papiermesser auf, und die Manuskriptblätter fielen zu Boden.
    Mrs. Hauksbee las. Wie gesagt, die Akten waren nicht gerade unwichtig. Mehr braucht man nicht zu wissen. Sie bezogen sich auf einen gewissen Briefwechsel, auf zwei Verfügungen, einen entscheidenden Befehl an einen einheimischen Häuptling und auf ein halb Schock andere Dinge. Mrs. Hauksbee rang beim Lesen nach Luft. Denn der erste flüchtige Blick in die kahle Maschinerie der großen indischen. Regierung, wenn sie aller Umhüllungen, ihres Firnisses, ihrer Farbe und ihres Räderschutzes entkleidet ist, macht selbst auf den dümmsten Menschen einen tiefen Eindruck. Und Mrs. Hauksbee war eine kluge Frau. Zuerst war sie erschrocken; es war ihr zumute, als hatte sie plötzlich das Ende eines Blitzes gepackt, ohne zu wissen, was sie mit ihm anfangen solle. Am Rande der Papiere standen Bemerkungen und Monogramme. Einige davon waren noch gefährlicher als der Inhalt selbst. Die Monogramme bezeichneten Leute, die heute im Grabe ruhen, die aber zu ihrer Zeit große Männer gewesen waren. Mrs. Hauksbee las weiter und überlegte dabei in aller Ruhe. Allmählich wurde sie des Wertes ihres Fundes inne und sann auf die bestmögliche Art, ihn auszunutzen. Da sprach Tarrion vor. Sie und er

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