Schloß der verlorenen Seelen
sie von dem Fährunglück sprechen. Im Traum gab ihre Mutter nach, versprach, mit ihrer Familie ein Flugzeug zu benutzen. Doch wenn die junge Frau am Morgen erwachte, dann wußte sie, daß sie sich in der Nacht nur etwas vorgemacht hatte, daß sie ihre Mutter niemals wiedersehen würde. Es war einzig und allein der Gedanke an Laura, der ihr half, den Tag zu überstehen.
Gleich nach der Beerdigung fuhr Camilla zum Flughafen, um am Abend wieder bei ihrer Schwester zu sein. Sie wußte, wie ungeheuer wichtig es war, daß Laura sich nicht alleine fühlte, daß sie ihre Stimme hörte.
Als sie am frühen Abend im Krankenhaus eintraf, kam ihr bereits im Gang vor der Intensivstation Dr. Durand entgegen. Sie merkte ihm an, wie aufgewühlt er war, und sie spürte, daß es mit ihrer Schwester zu tun hatte. “Ist etwas passiert, Doktor Durand?” fragte sie. Angstvoll versuchte sie, in seinem Gesicht zu lesen.
“Ja und nein”, antwortete er. “Laura ist sehr unruhig. Alles deutet darauf hin, daß ihr Erwachen unmittelbar bevorsteht. Ich bin sehr froh, daß Sie es möglich machen konnten, noch heute abend zu kommen. Denn wenn Ihre Schwester erwacht, ist es wichtig, daß Sie bei ihr sind.”
Einen Augenblick glaubte Camilla, die Knie würden unter ihr nachgeben. Ein ungeheures Glücksgefühl ergriff sie, während sie sich gleichzeitig dessen schämte. Kam sie nicht von der Beerdigung ihrer Mutter und ihres Stiefvaters? Aber sie nahm an, daß ihre Mutter sie verstehen würde und sich mit ihr freuen. “Ich kann es kaum fassen”, sagte sie.
“Kommen Sie.” Der Arzt nahm ihren Arm. Gemeinsam betraten sie die Intensivstation.
Camilla setzte sich an Lauras Bett. Obwohl es ihr niemand gesagt hatte, wußte sie, daß sie sehr viel Geduld haben mußte. Lauras Koma konnte sich noch über Stunden hinziehen, auch wenn die Linien auf dem Monitor jetzt geradezu Purzelbäume schlugen.
Zärtlich nahm sie die Hand ihrer Schwester. Laura erwiderte den Druck. Ihre Finger umfaßten Camillas, drückten regelrecht zu.
“Hallo, wach auf, Lovely”, forderte die junge Frau. “Du hast lange genug geschlafen. Allerhöchste Zeit, daß du zu uns zurückkehrst.”
Lauras Lider flatterten. Langsam, unendlich langsam schlug sie die Augen auf. Aber dieses Mal wirkte ihr Blick nicht starr. Sie wandte den Kopf, flüsterte den Namen ihrer Schwester.
“Ich bin ja bei dir, Lovely.” Camilla beugte sich hinunter und küßte sie.
“Mammy, Daddy”, flüsterte die Kleine. Sie schloß wieder die Augen. “Mammy, Daddy”, wiederholte sie. Ihre Stimme schnitt der jungen Frau ins Herz, und plötzlich veränderte sich Lauras Gesicht, verzog sich schmerzvoll.
Dr. Durand und eine Schwester traten an das Bett. Camilla stand auf, wartete im Hintergrund, bis der Arzt es ihr wieder erlaubte, sich zu ihrer Schwester zu setzen. Besorgt beobachtete sie, wie Laura untersucht wurde.
“Bitte, Miß Corman.” Dr. Durand wies auf den Stuhl, der neben dem Bett stand.
Camilla setzte sich. Laura wandte ihr wieder das Gesicht zu. Noch einmal fragte sie nach ihrer Mutter und ihrem Vater. “Das Schiff… es ist kalt, so kalt…”
“Ganz ruhig, Lovely.” Camilla strich durch Lauras wirre Locken. “Hab keine Angst, ich bin ja bei dir.”
Laura sah sie an. “Mammy und Daddy sind durch einen langen Tunnel gegangen”, sagte sie fast tonlos. “Ich hatte Angst. Ich habe nach ihnen gerufen, ich wollte ihnen nachlaufen. Doch sie haben es mir verboten. ‘Du mußt dableiben’, hat Mammy gesagt. Dann hat sie sich umgedreht und ist mit Daddy weitergegangen. Aber ich wollte nicht dableiben, ich wollte mit ihnen gehen. Dann war plötzlich Cathy bei mir. Sie nahm meine Hand und zog mich zurück.”
“Du mußt dich nicht fürchten”, meinte Camilla. “Dort wo Mammy und dein Daddy jetzt sind, geht es ihnen sehr gut.”
“Ich fürchte mich nicht”, erwiderte Laura. Sie umklammerte Camillas Hand. “Ich möchte nur, daß Mammy und Daddy bei mir sind.”
“Eines Tages werden wir sie wiedersehen”, antwortete die junge Frau. “Aber bis dahin wird viel Zeit vergehen. Von dem Ort, an dem sie jetzt sind, gibt es keine Wiederkehr.”
“Ich weiß.” Laura starrte zur Decke hinauf. “Cathy hat es mir gesagt. Sie kennt diesen Ort.” Sie wandte ihr wieder das Gesicht zu. “Werde ich jetzt bei dir wohnen?”
“Ja, das wirst du”, versprach ihre Schwester. “Ich werde mich um dich kümmern, Laura. Ich werde immer bei dir sein. Darauf kannst du dich verlassen.”
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