Schloß der verlorenen Seelen
auf dem Kissen. Camilla setzte sich zu ihr aufs Bett. Liebevoll berührte sie die Hand des kleinen Mädchens.
Laura blinzelte. Sie preßte die Lippen fest zusammen, um nicht zu lachen.
“Mir kannst du nichts vormachen, Lovely. Du bist wach”, stellte die junge Frau fest und begann, ihre kleine Schwester zu kitzeln.
“Das ist gemein”, beschwerte sich Laura kichernd. Dann richtete sie sich auf und schlang die Ärmchen um Camilla. “Ich habe dich ja so lieb”, bekannte sie. “Warum kommst du nicht mit uns nach Frankreich? Es wären die schönsten Ferien meines Lebens.”
“Sie werden auch ohne mich schön, Laura”, erwiderte Camilla. “Mom macht bereits das Frühstück. Komm, geh dich waschen und zieh dich an, sonst bekommst du nichts zu essen.”
“Nur leere Versprechungen, nur…” Lauras Lachen erstarb. Ihre blauen Augen wirkten plötzlich leer.
“Was hast du?” fragte Camilla erschrocken.
Ihre Schwester schien sie nicht zu hören. Wie in Trance strich sie sich mit der Hand über die Stirn, kniff die Augen zusammen.
“Laura!” Camilla rüttelte ihre kleine Schwester sanft bei den Schultern. “Laura!”
Die Kleine zuckte zusammen. In ihre Augen kam wieder Leben. “Ich geh mich waschen”, sagte sie, wand sich aus Camillas Armen und lief barfuß ins Bad.
Die junge Frau die Treppe hinunter. Sie wußte aus Erfahrung, daß es keinen Sinn, in ihre Schwester zu dringen, wenn diese in so einer Stimmung war. Doch sie erzählte ihrer Mutter von Lauras merkwürdigem Verhalten. “Ich möchte nur wissen, was sie von Zeit zu Zeit hat”, meinte sie besorgt. “Vermutlich wäre es besser, mit ihr einen Arzt aufzusuchen.”
“Laura ist ein ganz normales kleines Mädchen. Allerdings mit einer etwas übersteigerten Fantasie”, erklärte Nancy Randall. Du weißt doch, was sie manchmal für Geschichten erzählt, von Sachen, die irgendwann passieren werden.”
Camilla kannte diese Geschichten, aber sie verstand nicht, daß ihre Mutter so einfach darüber hinwegging. Immerhin war einmal sogar eingetroffen, was ihre kleine Schwester prophezeit hatte. Es war vor einem Jahr gewesen, am Weihnachtsabend. Laura hatte von einer riesigen Lawine gesprochen, die irgendwo hinuntergehen würde und viele Menschen mit sich reißen.
Am nächsten Tag hatten sie von einem Lawinenunglück in den Schweizer Bergen gehört.
“Zufall, nichts als Zufall”, hatte ihr Stiefvater gesagt und Laura in die Arme genommen. “Wir haben neulich erst zusammen einen Film über Lawinen gesehen. Es ist nichts, worüber man sich Sorgen machen müßte.”
Aber Camilla machte sich Sorgen, doch schließlich konnte sie ihre Mutter nicht zwingen, mit Laura einen Arzt aufzusuchen.
Sie deckte den Tisch auf der Terrasse und wollte gerade mit ihrer Mutter draußen Platz nehmen, als auch Laura kam. Das kleine Mädchen trug Jeans und ein farbiges T-Shirt. Sein Haar hatte es nur mit einem Gummi im Nacken zusammengebunden. Im Arm hielt es seine Puppe.
“Guten Morgen, Darling.” Nancy Randall zog die Kleine an sich, doch Laura reagierte nicht darauf. “He, was hast du denn?” Liebevoll strich sie ihr durch die Locken. “Träumst du mit offenen Augen?”
Laura gab ihr keine Antwort. Sie wand sich aus dem Arm ihrer Mutter, setzte die Puppe auf einen Stuhl und trat an die Terrassenbrüstung. Über die Dächer Londons hinweg schaute sie in die Ferne.
Camilla warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu. “Laura, erzähl uns, was du siehst”, bat sie leise und legte den Arm um die schmächtigen Schultern ihres Schwesterchens. “Laura, was ist passiert?”
Laura wandte sich um. “Ich hatte einen Traum”, sagte sie mit einer Stimme, die aus der Tiefe zu kommen schien. “Ich habe ein Schiff gesehen. Wir waren auf dem Schiff: Daddy, Mammy und ich. Es war kalt, dunkel. Es gab einen gewaltigen Ruck, und dann schlug das Wasser über dem Schiff zusammen. Ich…”
“Laura, was erzählst du da?” fiel ihr Nancy Randall ärgerlich ins Wort. “Du sollst dir nicht immer solche Geschichten ausdenken.”
“Nein, bitte.” Camilla schüttelte unwillig den Kopf. Dann wandte sie sich wieder ihrer Schwester zu. “Was geschah weiter, Laura?” fragte sie.
“Ich war in einem Schloß. Es war schön dort. Um das Schloß herum gab es weite Wiesen und Wald. Und ich hatte eine Freundin, ein Mädchen namens Cathy. Ein seltsames Mädchen. Ich konnte durch es hindurchsehen. Cathy führte mich durch das Schloß. Ihre Puppe trug eine gelbe Haube und ein
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