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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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es damit schon seine Richtigkeit hat. Vor Beginn der Arbeiten am Haus war ich mir noch gar nicht sicher gewesen, ob ich jemals wieder längere Zeit darin verbringen wollte. Anfangs, nachdem ich es das erste Mal nach all den Jahren wieder betreten hatte, gab es Momente, in denen ich mich sehr unwohl fühlte, im Schlafzimmer meines Vaters spüre ich diese Beklommenheit noch heute. Mir tritt dann unweigerlich vor Augen, wie er im September 2000 in diesem Raum aufgebahrt lag. Hätte Fatih im Frühjahr gesagt: Dieser verfallene Schuppen macht uns nur Arbeit, verkaufen wir ihn – ich wäre nicht dagegen gewesen. Fatih aber überzeugte mich, das Haus wieder mit Leben zu erfüllen, und ohne ihn hätte ich das nicht geschafft. Dass ich ausgerechnet Fatih getroffen habe; dass er nicht nach Deutschland wollte und ich einfach Abstand brauchte zu Deutschland; dass mein Mann sich so hingebungsvoll dieses Hauses angenommen hat: Es war vielleicht Zufall, dass sich eines so zum andern fügte. Oder Schicksal. Vielleicht sollte es so sein. Vielleicht war es so bestimmt.
    Inzwischen haben wir das Haus renoviert. Weil es so lange leer gestanden hat, war viel zu reparieren. Natürlich tut es noch manchmal weh, dort zu sein. Hier wollte Vater einmal leben, und es durfte nicht sein. Es gab mir jedes Mal einen Stich, etwas unbrauchbar Gewordenes, das von Papa stammte, umzugestalten oder wegzuwerfen. Wie seine verzierte Arbeitsplatte, die morsch geworden war. Mutter wollte sie aufbewahren, aber es wäre unsinnig, die kaputte Platte zu behalten. Es kommt nicht auf einzelne Dinge an, das ganze Haus ist eine Erinnerung an meinen Vater.
    Wenn ich jetzt auf dem Balkon sitze, den mein Vater so geliebt hat, dann sehe ich im Westen die Berge, aus denen wir in jener Nacht vor über zwölf Jahren die Glöckchen hörten – und wenn ich den Blick wende, schaue ich zum Friedhof. Das Gestern ist in diesem Haus immer präsent. Sowohl das Schöne, das wir geteilt haben, wie auch das Schlimme. Dieses Haus wird immer ein Ort sein, an dem die Erinnerung mich einholt. Deshalb könnte ich nicht dauerhaft hier leben. Fatih und ich wohnen die Woche über in Sarkikaraagac und verbringen nur die Wochenenden in Salur. Doch so bringen wir die Gegenwart in Vaters Haus. Und die Zukunft.
    Viele Träume meines Vaters blieben unerfüllt. Er hatte Grund rund um das Haus gekauft, wollte einen Garten anlegen und hatte schon begonnen, den Boden zu bepflanzen, aber er hat die Saat nicht mehr aufgehen sehen. Er hat so gerne gegrillt und ließ deshalb unter dem Balkon gleich zwei Feuerstellen einbauen; er hat sie nicht ein einziges Mal benutzt. Jetzt pflegen wir das Anwesen, meine Schwiegereltern haben den verwilderten Garten in Ordnung gebracht, und Fatih wird in diesem Jahr auf dem Feld neben dem Haus Apfelbäume pflanzen, wie es mein Vater nach seiner Heimkehr tun wollte. Wenn ich nun einige seiner Pläne umsetze, dann tue ich das natürlich nach meinen Vorstellungen, nicht genau nach seinen. Aber ich bin mir sicher, es hätte ihm gefallen. Weil wir seine Träume weiterführen.

    Zur Hochzeit kamen meine Freundinnen Nadire, Neslihan und Zeynep. Sie hatten ein Geschenk für mich, das mir besonders viel bedeutet. Ein Video, in das sie Fotos aus unserer gemeinsamen Zeit eingefügt und mit einem Lied des türkischen Popsängers Tarkan unterlegt haben, den wir früher immer gehört haben. All der Spaß, den wir miteinander hatten, die Albernheit und das Glück sind in diesem Video aufbewahrt: Es zeigt uns beim Tanzen, beim Reden und beim Grillen, beim Rumhängen und bei Autotouren, man sieht unser Haus in Schlüchtern, die gemeinsame Joggingstrecke, den Stausee, an dem wir so viele Nachmittage verbracht haben, die Wiese auf dem Hügel über der Stadt, wo wir manchmal Shisha geraucht haben. Es gibt Bilder von unserer Clique beim Schlittschuhlaufen und von Bayram, wie er uns Mädchen auf dem Eis zu Füßen liegt, von Kerim beim Limbotanzen und von uns allen, wie wir zu einer Paddeltour aufbrechen, in Istanbul Urlaub machen, irgendwo inmitten von Blumen sitzen und Okey spielen. Meine ganze Jugend ist in diesen Bildern eingefangen. Als ich das Video sah, war ich zu Tränen gerührt und musste lachen, weil es so schön war, die Nähe meiner Freundinnen zu spüren.
    Die Nacht vor der Hochzeit, die letzte Nacht, die die Braut zu Hause verbringt, bevor sie mit ihrem Mann zusammenzieht, ist die Henna-Nacht. Vormittags um elf Uhr gingen wir Frauen – meine Freundinnen, Cousinen und ich

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