Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
Vom Netzwerk:
Entscheidung getroffen zu haben, denn plötzlich taten sich ungeahnte Hindernisse auf. Mir fiel auf, wie viele feine Nuancen der türkischen Sprache ich noch nicht beherrschte, wie viele Scherze oder Wortspiele ich deshalb nicht verstand, und ich musste mich an andere Umgangsformen gewöhnen. Auf die banale Frage, wie das Wetter wohl werden wird, antwortet ein Deutscher in der Regel nüchtern, dass es Sonne oder Regen geben, dass es warm oder kühl wird. Ein Türke hingegen erzählt erst einmal von Istanbul und vom Morgenlicht, von der milden Luft und von den Wolken, die in Richtung Antalya ziehen. Manchmal fühlte ich mich in solchen Gesprächen beinahe veralbert, aber es gehört zur türkischen Höflichkeit, jemanden nicht mit knappen Worten abzuspeisen. Auch Einkäufe dauern in der Türkei deshalb viel länger als in Deutschland. Wer in einen Laden geht, um etwa eine Couchgarnitur zu erwerben, muss erst einmal Tee trinken und ein Schwätzchen halten, man erzählt, was man beruflich macht, von der Familie, woher man kommt, wie es dort so ist, dann darf man sich irgendwann endlich etwas aussuchen. Nachher muss man freilich noch im Büro über den Preis feilschen.
    Mir gefällt es, wenn nicht alles so straff und kühl abläuft. Aber manchmal werden diese Unterhaltungen für meinen Geschmack auch zu persönlich. Außerdem lassen die umständlichen Höflichkeits-, Gesprächs- und Verhandlungsrituale alles zäher vorangehen, und dann ertappe ich mich, wie ich ungeduldig werde. Dabei sind die Türken keineswegs immer so gesprächig. Wenn es darum geht, Missfallen zu äußern, ist es genau umgekehrt: In Deutschland sprechen wir direkt aus, was uns nicht passt, in der Türkei dagegen schweigt man erst einmal, um seinem Gegenüber nicht zu nahe zu treten. Man merkt deshalb oft nicht gleich, wenn man etwas falsch gemacht hat, und das kann dann zu noch größeren Verstimmungen führen.
    Als ich im Frühjahr 2012 in die Türkei zog, fühlte ich mich anfangs manchmal wie eine Fremde. In gewisser Weise machte ich nun die gleichen Erfahrungen wie mein Vater, als er nach Deutschland kam und sich auf sein neues Leben einließ. Und ebenso wie er muss ich mich in manchen Dingen an meine neue Umgebung anpassen. So trage ich auf dem Lande in der Türkei kein Top und keinen Minirock, damit würde ich unangenehm auffallen, und wer fühlt sich schon wohl, wenn er angestarrt wird? Zuweilen vermisse ich die deutsche Ordentlichkeit und Disziplin oder – auch das ist für mich etwas typisch Deutsches – die tolle internationale Küche, eine gute, frische Pizza oder die Kokosmilchsoße beim Thai. Andererseits hat mich die Türkei auch von Anfang an begeistert. Die Tage vergehen schnell, sie sind voll von neuen Eindrücken, neuen Bekanntschaften und Erfahrungen. Die Warmherzigkeit und Gastfreundschaft überwältigt mich immer wieder aufs Neue. Im Vergleich dazu erscheint mir Deutschland zuweilen ein bisschen langweilig und alt. Meine Ausbildung wird grundsätzlich anerkannt, ich muss allerdings eine Zusatzprüfung ablegen, um weiter als Sozialpädagogin arbeiten zu können. Dieses Berufsbild gibt es in der Türkei noch nicht. Aber ich habe studiert und beherrsche drei Sprachen, solche Leute sind in der Türkei gesucht. Im Grunde verhalte ich mich ähnlich wie viele andere in Deutschland aufgewachsene türkische Akademiker, von denen seit einigen Jahren immer mehr in die Heimat ihrer Eltern auswandern. Dank ihrer Ausbildung und Sprachkenntnisse eröffnen sich ihnen dort vielversprechende Perspektiven, eine gute Bezahlung und ein hoher Lebensstandard. Die Arbeit ist mir wichtig und hilft mir, mich zu integrieren – da ist es wieder, dieses Wort, und es scheint paradox: Integrieren muss ich mich nun in der Türkei. Fatih unterstützt mich bei allem. Er nimmt Anteil an dem, was ich tue, ohne mich einzuengen oder etwa über mich bestimmen zu wollen. Meinem Eindruck nach hängen viele junge Türken, die in Deutschland leben, fast stärker an der Tradition als ihre Altersgenossen in der Türkei und wünschen sich manchmal eher, dass die Frauen sich unterordnen, kochen und zu Hause bleiben. In der heutigen Türkei ist es für viele Paare selbstverständlich, dass auch die Frau arbeitet.

    Meine ersten Monate in der Türkei wurden von den Entwicklungen in Deutschland überschattet. Kaum hatte ich angefangen, mich in Salur und Sarkikaraagac einzuleben, holten mich Neuigkeiten über die Ermittlungen zur Terrorzelle oder die Untersuchungen zum Versagen

Weitere Kostenlose Bücher