Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Viele meiner deutschen Freunde waren dabei, auch unsere Anwälte, die uns in den letzten Monaten so intensiv begleitet hatten. Je mehr Gäste ankamen, desto glücklicher wurde meine Mutter, sie war in diesen Tagen ganz in ihrem Element. Manchmal fällt es ihr noch schwer, unter vielen Menschen zu sein, dann zieht sie sich oft lange ins Gebet zurück. Doch jetzt ging ihr mütterliches Temperament mit ihr durch, sie lebte auf: Sie war eifrig bedacht, dass jeder genug zu essen bekam, und wenn sie sah, dass einer der deutschen Gäste müde wurde, dann packte sie ihn bei den Schultern, drückte ihn auf ein Sofa, legte seine Beine aufs Polster und befahl ihm ein Nickerchen.
Es waren ausgelassene Tage und Stunden, Anekdoten und Erinnerungen schwirrten über die Tische, von unseren Grillabenden in Friedberg und Schlüchtern, davon, wie meine Mutter uns Kindern beibrachte, alles Leben in der Natur zu achten, oder jene verrückte Geschichte, wie ein Freund meines Vaters dem kleinen Kerim erzählte, dass in Sofas Spielzeugautos wachsen: Zum Beweis schlitzte der Mann vor den Augen meines staunenden Bruders die zerschlissenen Polster eines alten, für den Sperrmüll bereitstehenden Polsters auf und zauberte daraus einen kleinen Wagen nach dem anderen hervor. Kerim war begeistert. Er marschierte nach Hause, nahm ein Küchenmesser aus der Schublade und begab sich im Wohnzimmer auf die Suche …
Mir war es auch wichtig, dass unsere Anwälte verstanden, was der Mord an meinem Vater in seinem Heimatort ausgelöst hatte. Die über ein Jahrzehnt dauernde Ungewissheit hatte ja nicht nur meine Verwandtschaft in Deutschland, sondern auch Vaters Geschwister und deren Familien in Salur belastet. Im Dorfcafé begegneten die Anwälte nun einem von Vaters alten Freunden, der ebenfalls nach Deutschland ausgewandert war. Dieser Mann begann zunächst auf Türkisch zu erzählen, wie er in Deutschland den Mord erlebt hatte, Bayram übersetzte. Als das Gespräch auf die Stunden im Nürnberger Krankenhaus kam, erzählte der Mann plötzlich auf Deutsch weiter, als sei er in die erdrückende Stimmung zurückversetzt. Man sah, wie er die Verzweiflung und Ohnmacht jener Tage noch einmal durchlebte. Seine Stimme brach, er zog ein Taschentuch hervor. Auf der Terrasse des Cafés verstummten die Gespräche.
Meine Anwälte erfuhren auch, was die Brüder meines Vaters den «Bruderschmerz» nennen. Jahrelang hatte Vater seine Verwandten in Salur unterstützt, und er hat ihnen damit auch ermöglicht, in ihrer Heimat zu bleiben, anstatt ebenfalls zum Geldverdienen nach Deutschland gehen zu müssen. Mein Vater wusste, wie hart es für seine Brüder geworden wäre, in der Fremde Fuß zu fassen, nicht jeder hat seinen Unternehmungsgeist. Vor diesem Heimatverlust wollte er sie bewahren. Und ausgerechnet er wurde umgebracht.
Die stillen und traurigen Momente waren jedoch die Ausnahme, die meisten Tage in Salur waren reich an turbulenten, wunderschönen Eindrücken, Begegnungen und Erlebnissen. Türkische Gastfreundschaft ist nichts Förmliches und Zeremonielles, sie ist überschäumend und ganz unkompliziert. Zu jeder Tages- und Nachtzeit saßen auf der Terrasse von Vaters Haus zehn, zwölf, fünfzehn Leute beieinander, auf dem Tisch standen immer frische Gurken aus dem Garten, dazu Tomaten, Oliven, Käse, frischer Honig, selbstgebackenes Sesamfladenbrot und warme Wurst in Öl und Paprikasoße. Als eines Abends so viele Gäste kamen, dass sie nicht mehr an den Tisch passten, schleppte Onkel Hursit einen großen Teppich herbei, Fatih einen weiteren, während Hüseyin einen Riesengrill auf den Balkon wuchtete – und schließlich saß die ganze Gesellschaft zum Essen auf dem Boden unter dem Sternenhimmel.
Es war eine bewusste Entscheidung, dass Fatih und ich während der Hochzeitsfeier die meiste Zeit im Haus meines Vaters verbrachten. Zwölf Jahre lang war dieses Haus nicht bewohnt gewesen, zwölf Jahre hatte es verlassen und dunkel vor sich hin gedämmert, jetzt sollte es wieder von Lebensfreude zeugen. Schon im Frühjahr hatte Fatih angefangen, auf den Hofmauern und der Terrasse Lampen zu montieren, um das ganze Haus erstrahlen zu lassen. Ein Nachbar, der kurz darauf abends daran vorbeikam, war über den Anblick traurig und froh zugleich – traurig, weil das Gebäude so lange unbewohnt gewesen war, und froh, weil diese Zeit endlich zu Ende ging. Meine Mutter schimpft zwar bis heute, dass die vielen Lampen reine Energieverschwendung seien. Aber wir finden, dass
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