Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
der Ermittler in mein altes Leben zurück. Ich erfuhr zum Beispiel, mit welcher Selbstgefälligkeit und welcher Verachtung gegenüber anderen Kulturkreisen die Operative Fallanalyse Baden-Württemberg im Jahr 2007 über die Mordserie geschrieben hatte: Hier bei «uns», also bei den Deutschen, sei das Töten tabuisiert, die Täter kämen deshalb wohl eher aus «Südosteuropa», die Opfer hätten ein «undurchsichtiges» Leben geführt. Als hätte noch nie ein Deutscher einen Mord verübt, als würde in der Türkei jede Meinungsverschiedenheit mit der Waffe ausgetragen, als wären die Ermordeten daran schuld, wenn die Polizei im Dunkeln tappt! Dazu das Geraune über «archaische Ehrvorstellungen». Ich fragte mich: Wenn das die Einschätzung eines besonders kompetenten Experten sein soll, auf den seine Kollegen hören – wie soll ich dann noch daran glauben, dass die Polizei vorurteilsfrei ermittelt hat? Im Sommer, kurz vor unserer Hochzeit, erreichten uns Meldungen, dass deutsche Behörden Akten geschreddert hatten: Ein Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz ließ, nur wenige Tage nachdem die Terrorzelle aufgeflogen war, Unterlagen über das Umfeld der Mörder vernichten – und kurz darauf ordnete das Bundesinnenministerium die Löschung weiterer Materialien an.
Das machte mich so wütend. Was haben die zu verbergen, fragte ich mich – wenn die so etwas tun, dann müssen sie doch etwas vertuschen wollen! Wie soll ich denen noch glauben, wo sie doch die Aufklärung der schrecklichen Geschehnisse derart dreist zu verhindern versuchen? Ich musste an die Worte von Frau Merkel bei der Gedenkveranstaltung denken, nur wenige Monate war das her: «Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen», hatte sie gesagt, «wir tun alles», um die Morde und ihre Hintergründe aufzuklären. «Alle zuständigen Behörden», hatte sie versichert, arbeiten daran «mit Hochdruck».
Nun von geschredderten Akten zu hören, versetzte meinem Glauben an die staatlichen Stellen einen neuen Schlag. Wie soll ich mir, wie sollen meine Familie und die Angehörigen der anderen Opfer sich noch sicher sein, dass die versprochene Aufklärung wirklich stattfindet? Können wir überhaupt noch davon ausgehen, dass wenigstens im Gerichtsprozess gegen Beate Zschäpe und ihre Helfershelfer alle wichtigen Fakten auf den Tisch kommen und nichts unterschlagen wird? Mit jeder weiteren Enthüllung wird unser erschüttertes Vertrauen noch brüchiger. Auch in Salur fachten die Meldungen über die Aktenvernichtungen das Misstrauen gegenüber dem deutschen Staat wieder an. Deutschland, sagten die Leute auf der Straße und im Café, habe bei ihnen viel Respekt eingebüßt. Denn auch die Menschen in Salur fühlten sich getroffen: Zuerst hätten die Ermittler mit ihren Verdächtigungen, mein Vater sei ein Mafioso, jahrelang Schande über das Dorf gebracht, das damit dagestanden habe wie ein Verbrechernest. Nun, so schien es vielen in der Türkei, wollten die staatlichen Stellen die Aufklärung dieser Morde verhindern. Manche Dorfbewohner mutmaßten sogar, die Gewalttäter seien von einflussreichen Persönlichkeiten geschützt worden, denn anders konnte man sich nicht erklären, warum die Mörder so lange unbehelligt geblieben waren. Ich selbst halte nichts von derartigen Verschwörungstheorien und habe mir Vertrauen bewahrt, einen Rest zumindest. Aber es wundert mich nicht, wenn die Leute so düstere Erklärungen ausbrüten. Denn natürlich frage auch ich mich immer wieder, ob den Behörden in all den Jahren wirklich nur bedauerliche Fehler unterlaufen sind, ob wirklich nur Pfusch und Schlamperei für ihr Versagen verantwortlich waren. Oder ob nicht vielleicht zumindest der eine oder andere Beamte absichtlich weggesehen oder mit den Tätern sympathisiert hat. Ich will mir solche Abgründe nicht ausmalen, ich will niemandem etwas unterstellen. Aber Enthüllungen wie jene über zwei Polizisten aus Baden-Württemberg, die als Mitglieder des rassistischen Geheimbunds Ku-Klux-Klan enttarnt wurden und trotzdem weiter für die Polizei arbeiten dürfen, rauben mir alle Sicherheit. Wenn ein staatlicher Behördenapparat das erlaubt, dann erscheint einem alles vorstellbar.
Zu meiner Hochzeit im Juli 2012 fanden sich Hunderte Gäste in Salur ein, alle Verwandten, viele Bekannte und Freunde. Natürlich waren meine Onkel und Tanten da, Hüseyin und seine Frau Hatun, Hursit und Ümmü, meine Cousinen Emine und Beyza, mein Cousin Bayram.
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